Verliebt in Madurai

„Du wirst dich in Madurai verlieben“, ruft Petra, die mit ihrem schweren Rucksack hinter mir her durch das Gedränge auf dem Busbahnhof von Trichy hastet.
Woher weiß sie das? Hat Indiens Spiritualität so stark auf sie gewirkt, dass Petra jetzt schon in die Zukunft gucken kann? Und selbst, wenn: Ich bin doch gar nicht auf der Suche nach einem Mann!
Um diesem komplexen Gedankengang Ausdruck zu verleihen, reicht meine Kraft in der Hitze nicht. „Hä?“, rufe ich zu ihr zurück.
„Madurai soll die Seele von Tamil Nadu sein“, schreit Petra. „Der Reiseführer sagt, dass wir an diese Stadt unser Herz verlieren werden.“
Ach so. Dann bin ich ja beruhigt.

Wir quetschen uns vorbei an einem Stand, an dem fettige Samosa-Gemüseteigtaschen und duftende scharfe Pakoras feilgeboten werden. Obwohl das Duschwasser aus dem Krishna Inn noch nicht lange auf meiner Haut getrocknet ist, merke ich, wie mir ein Rinnsal Schweiß über den Rücken läuft.
„Maderimaderimaderi!“, ruft ein Mann in khakifarbener Uniform wie ein Maschinengewehr. „Maderimaderimaderi!“

Petra bleibt bei ihm stehen. „Excuse me, Mister. Is this the Bus to Madurai?“
Er bewegt den Kopf ein paar Mal hin und her. Noch vor Wochen hätten wir angenommen, dass er die Frage verneint. Jetzt wissen wir: Jawoll, das ist unser Bus.
Wir erklimmen die steilen Stufen ins Businnere, streifen die Rucksäcke ab und lassen uns auf den Sitz fallen.

Madurai, so erklärt mir Petra, soll die geheime Hauptstadt von Tamil Nadu sein.
„Als Kölner sind wir dann ja hier genau richtig“, meine ich. „Immerhin denken wir ja auch, dass wir in der heimlichen Hauptstadt leben.“
„Ich bin doch keine Kölnerin.“ Petra schaut mich empört an. „Ich bin Norddeutsche und lebe nur in Köln!“
Stimmt natürlich, schließlich ist sie in Jarmen in Meckpomm geboren.
Aber haben die Jahre in der Domstadt nicht doch ein bisschen abgefärbt?

Auf der anderen Seite des Ganges sitzt ein Pärchen. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, hat feine Gesichtszüge, ihre glänzenden schwarzen Haare schauen unter dem Schal des Saris hervor. Sie dreht sich zu uns herum, lächelt und nickt zum Gruß. Dann reicht sie uns eine Tüte mit viereckigen Süßigkeiten aus Erdnüssen und Karamell, die auch an den Ständen im Bahnhof verkauft werden, und köstlich auf der Zunge schmelzen.

„Maderimaderimaderi!“
Außer dem Schlachtruf des Busfahrers dringen Stimmengewirr, Hupen und anfahrende Wagen zu uns herein. Durch das trübe Frontfenster, auf dem außen POINT TO POINT steht und innen ein Sticker mit den rundlichen Zügen von Shiva klebt, sehen wir einige Männer rennen, die kurz darauf das Innere unseres Gefährts erklimmen.

Der Mann in der Uniform klettert nun ins Fahrerhäuschen und lässt den Motor aufheulen. Es riecht intensiv nach Benzin. Er drückt ein paar Mal auf die Hupe – ein schier unerträglich lauter Sirenenton. Es ist so heiß, dass der bunte Hippierock, den ich mir gekauft habe, an meinen Beinen klebt und wir beide auf unserer Plastiksitzbank vor uns hin schwitzen, selbst an den Unterarmen.
Der Fahrer manövriert mit so viel Schwung rückwärts aus der Busparklücke, dass wir uns an der Metallstange des Vordersitzes fast die Zähne ausschlagen.
Petra und ich sehen uns an.
„Ich liebe Busfahren in Indien!“, rufen wir gleichzeitig.

Das Pärchen lehnt sich zurück. Der Mann legt den Arm um seine Liebste, seine Hand liegt lässig auf der Lehne.
Wie schön! Der Busfahrer kurvt um die Ecken, als wäre dies sein allerletzter Trip – und hier im Bus wird nicht nur Petra und mir warm vor Glück. Mit dem Fahrtwind kühlen wir etwas ab, das Gefühl bleibt.

Nach einer vierstündigen Fahrt mit Pinkelpause und Stippvisiten in allen kleinen Orten auf dem Weg, erspähe ich schließlich auf den staubigen Werbetafeln am Straßenrand das Wort Madurai. Wenig später schlingern wir durch eine Straße, die ihren Haupterwerb aus dem Verkauf von Zwiebeln zu ziehen scheint.
„Falls du mal weinen möchtest, solltest du vielleicht hierher kommen“, meint Petra trocken.
„Weinen? Soll ich mich etwa unglücklich in diese Stadt verlieben?“
Sie lacht und schüttelt den Kopf. „Jedenfalls geht Liebe durch den Magen. Hunger?“
Eine blendende Idee. Indisches Essen liebe ich nämlich sehr. So sehr, dass ich froh bin über die Hose mit Gummibund, die mir ein Schneider in Mamallapuram angefertigt hat.

Nachdem wir unser Gepäck in der Unterkunft deponiert haben, beginnen wir mit der Futtersuche. Der Reiseführer schlägt ein Restaurant in der Nähe vor. Mit dem Buch in der Hand fahnden wir danach.
„Where you headin?“ Ein großer, kräftiger Mann mit heller Haut und Basecap hält uns an. Ami? Neuseeländer? Australier?
Kanadier – und klassischerweise auch noch Holzfäller.

Wir kommen ins Gespräch, und da Christopher gerade ebenfalls der Hunger plagt, sitzen wir bald darauf in seinem Lieblingsgasthaus, dem Sri Sabareesh in der Nähe des Bahnhofs. Es quillt schier über vor Menschen, denen die Küchenjungs ein Bananenblatt vorlegen, auf das sie aus verschiedenen Töpfen Reis, Pappadams und bunte, wohlriechende Soßen und eine Art würzigen Kartoffelsalat klatschen. Ein typisches indisches Mittagessen, dieses Thali, das immer wieder nachgefüllt wird, solange man hungrig ist.
„Mmmmmh.“ Petra steckt sich mit den Fingern noch etwas Reis mit Sambar in den Mund, dann noch ein wenig würzige Kartoffelmatsche hinterher.
Ich bin schon satt, knabbere aber trotzdem noch an einer in Salzlake getrockneten Chilischote, gar nicht scharf, eher aromatisch.

Christopher war als Kind mit seiner Mutter in Oshos Ashram.
„Ich verbringe hier den Winter“, erklärt er. „Ist günstig, und was soll ich zu Hause sitzen, wenn ich da ohnehin keine Arbeit habe?“
Ihn interessieren Religion, Sprache und Geschichte und so ist er auf der Suche nach neuer Lektüre – so sehr, dass er jedes Jahr ein paar Kilo Bücher nach Hause schickt. Er hat vor, zur Buchmesse nach Kalkutta zu fahren.
„Da habt ihr ja was gemeinsam“, ruft Petra entzückt. „Anne ist Autorin und sie fährt jedes Jahr auf die Buchmesse in Frankfurt.“
Ihre Augen glänzen, während ihr Blick zwischen uns hin und herwandert.
„Die Preise der Post sind allerdings gestiegen, dieses Jahr werden es wohl weniger“, meint er und wischt sich mit der Hand über den Mund. „Vielleicht nur zwanzig Kilo.“
Der Typ ist nett. Aber wann will er das alles nur lesen?
„Es gibt eben so viele interessante Bücher“, sagt er und erzählt von einem, das belegen soll, dass alle Religionsführer eigentlich Yogis waren.
Ich runzele die Stirn. Hätte ich das nur gewusst, als ich mich mit dem Thema Religion beschäftigte.

„Habt ihr Lust, in den Tempel zu gehen?“, fragt Christopher.
„Au ja“, ruft Petra. „Anne findet es bestimmt toll, wenn du uns begleitest!“
Nun, warum nicht.
Auf dem Weg zum Tempel geht sie in einigem Abstand hinter uns her. Christopher und ich unterhalten uns zwar angeregt, aber ich werfe immer wieder einen Blick zurück, um zu sehen, ob sie nicht verloren gegangen ist.

Der Sri-Meenakshi-Tempel ist einer der schönsten, die wir bisher gesehen haben, das Essen war eines der leckersten, die wir je gegessen haben, und Madurai hat ein angenehmes Tempo, eine sehr relaxte Atmosphäre.
Trotzdem scheint irgendetwas mit Petra nicht in Ordnung zu sein. Sie ist so still.

„Alles okay?“, frage ich sie, als wir im Tempel die Deckenverzierungen bewundern.
„Wenn ihr gerne mehr Zeit zusammen verbringen möchtet, dann unternehme ich einfach was alleine.“ Petra sieht mich erwartungsvoll an.
Warum schlägt sie das vor – ich bin doch mit ihr hier? „Aber der hat doch bestimmt keine Zeit. All die Bücher, die er noch lesen muss.“
„Ich glaube, dem bist du nicht egal“, sagt sie.
Ich zucke mit den Schultern.

Erst, als wir wieder auf der Straße sind, fällt bei mir der Groschen. „Ach, du meinst, Christopher könnte der Grund sein, warum ich mich in Madurai verliebe?“
„Na klar, hübsch ist er ja. Und Holzarbeiter. Der kann sogar eine große Frau wie dich hochheben.“
Ich muss lachen und schüttele den Kopf.
Christopher ist nett. Ob er ein Mann für mich wäre, weiß ich nicht.
Was ich allerdings weiß: Petras Jahre in Köln haben tatsächlich auf sie abgefärbt. Oder zumindest der Karneval, in dem es hauptsächlich um das Eine geht.
Ich beginne eine bekannte Melodie zu summen.
„Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust …“
Nun muss auch Petra schmunzeln.

Ich lasse den Blick schweifen. Das bunte Treiben um mich her gefällt mir. Eine ayurvedische Apotheke, die überquillt vor Töpfchen, Tübchen und Tiegelchen. Ein Kunstgeschäft, indem dunkle und bemalte Holzarbeiten angeboten werden. Eine Gruppe von Frauen mit bunten Saris und einige Männer, die vor einem Haus Chai aus kleinen Gläsern trinken.
Ja, ich bin bereit, mich zu verlieben.
Vielleicht erst mal in diese Stadt.

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