Shiva Colonia beim Travelslam am 18.11. in Düsseldorf!

Travelslam

Liebe Freunde fremder Länder und fröhlicher Kulturen,

auf zum nächsten Travel Slam in Düsseldorf!
Dort erzählen wir von der Reise, die nicht nur unser Gewürzregal verändert hat, sondern auch uns selbst.

Bisher hatten wir in allen Dingen auf das Rheinische Grundgesetz vertraut.
Vom Leben im Hier und Jetzt – “Et es wie et es!” – bis zur Akzeptanz der Vergänglichkeit – “Wat fott es, es fott.” – in diesen Sätzen findet jeder Jeck Rat.

Das Rheinische Grundgesetz ist gut. Aber ist es auch universell?
Sechs Wochen lang haben wir das ausgetestet – in Indien, dem Land, das die Erleuchtung quasi erfunden hat.
Bei dem, was wir auf unserer Reise erlebt haben, könnt ihr jetzt dabei sein.
Und zwar am 18.11.2015 ab 20 Uhr in der Freizeitstätte Garath in Düsseldorf, Fritz-Erler-Straße 21!
Hier gibt’s Tickets!

Wir freuen uns auf euch!
Petra und Anne

PS: Mehr über unsere Reise steht auf unserer Webseite!
Dort findet ihr auch ein besonderes Video-Special:
Petra hat sich nämlich skurrile Figuren einfallen lassen, die ihre eigenen Erfahrungen in Indien machen:
Drei Frauen, die gemeinsam einen Kundalini-Yoga-Kurs an der Volkshochschule Köln besuchen und sich auf Anraten ihres Gurus Rainer den nächsten Flieger geschnappt haben …

Last, but not least: Mumbai

Sechs Wochen Indien liegen hinter uns, Tausende von Kilometern haben wir zurückgelegt, so viele freundliche und interessante Menschen kennen gelernt und etliche Grundgesetze erprobt. Zwei Tage bleiben uns noch in Mumbai, das einst Bombay hieß. Es ist ein echtes Problem: So viel zu sehen –von Mumbai, von Indien insgesamt – und so wenig Zeit. Dieses Land ist uns ans Herz gewachsen.
Aber was sollen wir sagen, wenn wir zu Hause gefragt werden: „Wie war denn Indien so?“ Noch habe ich keine Antwort auf diese Frage, mein Abschiedsschmerz überwiegt.

„Und wenn wir einfach hierbleiben?“, fragt Petra und blinzelt in die Sonne auf dem Vorplatz des Gateway of India.
„Ich würde sagen: ja“, erwidere ich. „Mindestens noch sechs Wochen.“
Doch das ist leider ausgeschlossen – zu Hause warten Arbeit, Familie und Freunde.

Wir versuchen, etwas zu finden, das uns den Abschied von diesem Land, das uns so fasziniert, leichter macht. Doch weder Teetrinken in unseren Schlunzklamotten im Beisein des überaus höflichen Servicepersonals des Taj Mahal Palace noch der Besuch der Bombay Panjrapole – eines Kuhsozialheims in der Nähe des Bhuleshwar-Marktes, auf dem wir danach noch ergebnislos versuchen, uns durch Shopping in die Erschöpfung zu treiben, fruchtet etwas.

„Komm, lass uns rüberfahren zur Elephanta Island“, schlägt Petra am nächsten Tag vor.
Ja, ich finde auch: Wir sind eher reif für die Insel als für die Rückkehr nach Deutschland, wo es derzeit schneit und alles grau in grau ist. Vielleicht zieht ein Sturm auf und wir können die Insel nicht verlassen?

Doch weit gefehlt. Der Himmel bleibt milchig-versmogt in der Hitze der Millionenstadt, und wir schippern friedlich und ungestört auf die Insel mit den tollen Tempelanlagen ohne Elefant – und zurück.

Ein letztes Essen im Leopold’s Café, das sich innerhalb kürzester Zeit zu unserem Stammladen entwickelt hat. Das Leopold’s gibt es schon seit der letzten Jahrhundertwende – ein kramig aussehendes altes Café, indem sich die Gäste mitunter auf die Füße treten und wo große Spiegel an den Wänden hängen, über ihnen Gemälde von London, Paris, New York – kein Wunder, dass es so beliebt ist, allein die Drinks, die sie dort servieren!

Eine halbe Stunde später ordern wir die Rechnung und müssen uns nun schon beeilen, um unsere Koffer aus dem YWCA zu holen und ein Taxi zum Flughafen zu bekommen.

Ohne Erfolg.
Die Zeit verstreicht.
Kein Taxi in Sicht.

„Sonst bremsen doch immer gleich mehrere!“, meint Petra und tritt nervös von einem Fuß auf den anderen.
Insgeheim hoffe ich, dass wir den Flug einfach verpassen. Immerhin habe ich immer noch keine Antwort auf die Frage, wie ich Indien eigentlich finde.
Schließlich hält doch ein Wagen vor der Jugendherberge, der Fahrer schnallt unsere Rucksäcke aufs Dach und wir brausen gen Norden durch die Stadt.

Alles zieht noch einmal an uns vorbei: das Formerly-Prince-of-Wales-Museum, das jetzt Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya heißt, der Marine Drive alias Queen’s necklace mit den vielen Straßenlaternen, und in der Ferne sehen wir die Geier über dem Tower of Silence kreisen. Taxis überholen uns, und selbst auf dicht befahrenen mehrspurigen Straßen versuchen Fußgänger zu kreuzen.
Große Plakate künden von neuer Sari-Mode, teuren Uhren oder dem neusten Bollywoodfilm. Es wird langsam dunkel, und immer noch haben wir unser Ziel nicht erreicht.

„Mist“, meint Petra schließlich, als das hypermoderne Gebäude des Flughafens in Sicht kommt. „Jetzt haben wir es doch geschafft.“
Genau so geht’s mir auch.

Allerdings haben wir auf der langen Fahrt eine halbwegs einleuchtende Antwort auf die Frage gefunden, was der Subkontinent für uns bedeutet:
Indien, wir werden dich vermissen. In all deiner Schönheit, deiner Weisheit, den wunderbaren Gerichten, die wir hier gegessen und den schrägen Dingen, die wir hier erlebt haben. Sicher bist du ein schwieriges Land, mit all der Armut und den sozialen Ungerechtigkeiten, der Umweltverschmutzung und den fehlenden Infrastrukturen. Du bist so, wie wir es nie erwartet hätten: besser, schlimmer, duftender, stinkender, lieblicher, lärmiger, leckerer, ungewöhnlicher und verrückter als alle Länder, in denen wir zuvor je gewesen sind.

Danke für diese Reise und deine Gastfreundschaft, incredible India!
Und: Good bye, Mumbai!

Mumbeitragsbild

Hampi hat’s!

„Sag ihm, er soll weggehen!“, bitte ich Petra. Ich will hier nicht sein, ich habe gerade keine Lust, ein Teil vom Tourismusrummel dieses Ortes zu werden.
Sie macht eine halbherzige Bewegung in Richtung des Tuk-Tuk-Fahrers, der im Begriff ist, unser Gepäck in seinen Wagen zu verfrachten.
„I help you!“, ruft er und müht sich weiter ab. „You my guest!“

Wir sind gerade mit dem Überlandbus an der vorletzten Station unserer Reise angekommen: dem sagenumwobenen Hampi, reich an Schätzen der Vijayanagar-Kultur, Tempeln und Palästen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen über der Hochebene, auf der Felsbrocken verstreut liegen, als habe ein Riese damit gespielt. All das wartet auf uns.

Und das ist mir im Moment so was von egal.
Ich bin hundemüde, mein Rücken schmerzt von der Fahrt auf der harten Buspritsche, mir ist schlecht, weil der Fahrer jede Kurve mit Karacho genommen hat und zu allem Überfluss plagen mich grausame Magenschmerzen. Glücklicherweise kein Durchfall – nur das wäre noch schlimmer gewesen.

„Ich kann das jetzt nicht“, sage ich Petra, als der Fahrer weiter an meinem Rucksack zieht.
Es ist hart für Inder, die im Tourismusgeschäft arbeiten, auf einen Touristen scheinen hier zehn Fahrer zu kommen.
Petra wirft mir einen Blick zu, entscheidet, dass ich das jetzt nicht entscheiden kann und nennt ihm eine Adresse auf der anderen Seite des Flusses. Dahin fährt aber derzeit kein Boot, und so nehmen wir mit einer Herberge diesseits des Wasserbetts vorlieb.

Das Tuk-Tuk hält im Dunkeln vor einem kleinen Haus am Ende einer Straße, Petra kramt einige Rupien hervor und reicht sie dem Mann, der so nett ist, uns das Gepäck hineinzutragen und einige Worte mit der Wirtin zu sprechen.
„You stay here, she say when room is ready“, meint er. „I come back later.“
„No“, meint Petra. „No, you don’t need to come back.“
„Yes“, strahlt er sie an. „You my guests. I come back later. Take you on tour.“
Sie schüttelt müde den Kopf.

Derweil habe ich mich schon auf die Liege geschleppt, die auf der kleinen Veranda steht.
Schon bald umschwirren mich Hunderte von Moskitos.
„Magenschmerzen und Mücken – super Kombi“, murmele ich und hülle mich so in mein Tuch, dass nur die Nasenspitze rausguckt.
Petra versprüht No-bite über mir, und zur Sicherheit auch etwas von dem ayurvedischen Mückenspray, das wir in Kochi gekauft haben.
„Verflucht“, sagt sie leise. „Die spielen ja hier Hauptversammlung an der Wand!“
Ich muss wider Willen lachen, mein Magen rächt sich dafür sofort.
Kaum bin ich halb eingeschlafen, weckt mich die Wirtin, die mir mitteilt „room“ sei „ready“, und ich könne mich hineinlegen.

Die Sonne ist mittlerweile aufgegangen. Als ich aufstehe und die Mücken beiseite scheuche, die offenbar einen Mietvertrag mit meinen Klamotten geschlossen haben, werfe ich nur einen zaghaften Blick über den Fluss, der genau unterhalb der Veranda verläuft. Halluziniere ich bereits vor lauter Krämpfen? Es sieht aus wie gemalt.

Petra steht still und blickt hinüber zur anderen Seite, wo sich im milchigen Licht des Sonnenaufgangs riesige Felsblöcke türmen. Auf unserer Seite des Flusses stehen Palmen, einige Wäscherinnen tragen ihre Körbe zum Fluss. Und von irgendwoher erklingt ein Gejaule, das an die Sängerin eines Bollywood-Films erinnert.
„Das sieht ja großartig aus!“, ruft Petra.
„Ruhe!“, erklingt es aus einem der Zimmer des Hauses. „Es ist sechs Uhr, wir versuchen hier noch zu schlafen!“
„Sorry“, meint Petra mit gedämpfter Stimme, und zu mir gewandt: „Ich geh mal rauf, oben servieren sie schon Frühstück.“
Beim Wort Frühstück krümme ich mich ein bisschen.
Sie lässt den Schlüssel in meine Hand gleiten, deutet auf das Zimmer am Ende der Veranda und nickt. „Gute Besserung, leg dich mal ein bisschen hin.“

Die Mücken kennen den Unterschied zwischen drinnen und draußen hier offenbar nicht, es surrt auch im Zimmer.
Schnell packe ich mein Schlafsack-Inlay aus, werfe mich unters Moskitonetz und mache die Augen wieder zu.

Eine Stunde später werde ich davon wach, dass jemand vorsichtig an die Tür klopft.
„You want to see Hampi“, fragt eine bekannte Stimme, ich bin mir sicher, dass es der Fahrer von heute Nacht ist.
„No“, rufe ich schwach. „Sorry, my stomach hurts! I cannot go out!“
„You see Hampi?“
„Sorry!“, rufe ich. „Not. See. Hampi. Feel. Sick!“

Er klopft noch drei Mal, bis Petra kommt und ihm erklärt, was Sache ist.
„Ich geh dann jetzt mal mit ihm eine Runde drehen“, sagt sie zu mir. „Brauchst du noch irgendwas?“
Ich schüttele den Kopf. Solche Magenkrämpfe hatte ich noch nie! Scheint zu stimmen, dass man in Hampi wirklich etwas erlebt, das man so zuvor noch nie erlebt hat.

Es wird Abend, und außer Wasser nehme ich nichts zu mir.
Petra kommt erst spät zurück und schwärmt von den Ruinen und der sagenhaften Landschaft.
„Hampi ist wirklich sehr klein“, sagt sie dann. „Inzwischen weiß das ganze Dorf, dass du krank bist. Dauernd bestellt mir jemand Grüße an dich, fragt, wie es dir geht und wünscht gute Besserung.“
Das ist mir als Großstädterin leicht unheimlich. Köln ist da so ganz anders als Hampi.

Am nächsten Morgen geht es mir wieder besser. Ein wenig zwickt der Magen noch. Aber ich kann die Fragen nach meinem Gesundheitszustand selbst beantworten.
Und Petra hat recht: Ausnahmslos jeder will wissen, wie es mir geht. Die Frau mit dem kleinen Shop an der Ecke, unsere Wirtin, der Mann, der nichts zu tun scheint, außer die Kuh am Ende der Straße im Auge zu behalten.

„You feel better?“, fragt unser Fahrer von der ersten Nacht mit großen Augen. Er hat auf mich gewartet, scheint es.
Ich nicke. „Thank you.“
„You see Hampi today?“

Eigentlich will ich nicht allein mit einem Fahrer durch die Weiten der Ebene gondeln, aber nach den Bekundungen und dem Mitgefühl allerorten habe ich das Gefühl, dass ich schon jetzt ein Teil von Hampi bin. Und wenn’s nur ein Teil des Tourismusrummels ist – aber der ist hier wirklich sympathisch.
Ich nicke, er freut sich.
„First“, sage ich und zeige auf mich. „Drink tea.“
Er lacht und nickt. Und ich bin versucht, zu sagen: „Drink doch ene mit.“
Und finde, Köln und Hampi sind doch gar nicht so weit auseinander.

Hampibeitrag

PVC Lakshadweep Sea

Zugfahren erfordert in Indien viel Langmut, das haben wir bereits einmal erlebt.
Noch mehr Geduld braucht man nur, wenn man mit dem Schiff reist.

An dem Tag, als wir zu einer Trauminsel der Lakkadiven aufbrechen, wache ich schon um sechs Uhr auf, weil ich Panik habe, den Dampfer zu verpassen.
„Schnell“, treibe ich Petra an. „Sonst fährt das Schiff ohne uns los.“
„Ist ja gut“, sagt sie. „Bestimmt meinen die neun Uhr indischer Zeit.“

Als wir mit dem Tuk-Tuk zum Anleger kommen, ist es kurz vor halb neun.
Ich gähne verhalten.
Boarding Time soll um neun sein – die Dokumente für die Reise sollen wir in der Lakshadweep Wharf bekommen.

Nach kurzer Suche in der wuseligen Halle finde ich ein verblasstes Schild, das darauf hindeutet, dass sich das Büro für unsere Reiseleitung in der oberen Etage befindet.
Kann das sein?
Dort ist alles leer, bis auf eine Kammer, in der sich gelbe T-Shirts und weiße Basecaps mit Lakshadweep-Logo türmen.
Der kleine Mann hinter dem Schreibtisch nickt – schüttelt also den Kopf auf diese typisch indische Weise, als ich ihn frage, ob ich meine Reisedokumente für Kadmat bei ihm bekomme.
„Passport?“, fragt er.
Ich eile nach unten und lotse Petra aus dem Tuk-Tuk. Sie bezahlt den Fahrer und schickt ihn weg.

Dann schleppen wir uns mit den Rucksäcken in die obere Etage.
„Ob wir wohl jetzt so ein T-Shirt und so eine Kappe bekommen, das volle Touripaket?“, fragt Petra mich, als wir dem Mann die Pässe reichen.
Ich zucke mit den Schultern.
Der Mann drückt jeder von uns einen Ausdruck in die Hand und deutet nach unten.
„Boarding for Lakshadweep Sea, you go”, sagt er bestimmt.
Ohne Ferienpaket gehen wir nach unten.

Petra will noch eine Flasche Wasser an einem Verkaufsstand erwerben, unterdessen kommt ein Mann in grauer Uniform auf mich zu.
„Going Kadmat?“
Ich nicke.
Er will mich am Arm ziehen und deutet auf die beiden Schalter, an denen Uniformierte eine lange Schlange Reisender kontrollieren.
„Sorry, my friend is just buying some water …“
„Kadmat“, sagt er mit mehr Nachdruck. „Go.“
„Friend“, sage ich und deute auf Petra. „Buy. Water.“
Er nickt und zieht Leine.

Wir reihen uns ein.
„Wie früher in der DDR“, raunt Petra mir zu.
Wir sind umgeben von Männern in Uniform, die uns in Richtung eines Schalters drängen, wo ein in Khaki Gewandeter die zusammengehefteten Reiseunterlagen ein weiteres Mal akribisch prüft. Ein Blick in unsere Gesichter, ein weiterer in die Pässe, dann wieder ins Gesicht, dann wieder in den Pass – so genau bin ich das letzte Mal geprüft worden, als ich mit sechzehn in die angesagte Disko am Ort wollte.

Endlich auf dem Steg, gehen wir die paar Meter mit den Rollkoffern zum Schiff.
Es ist ein ziemlich großer Kahn, sieht von außen aus wie das Traumschiff.

Von innen, das merken wir schnell, ist es eher ein Albtraumschiff: Unsere Erste-Klasse-Kabine wirft sofort die Frage auf, wie denn dann die zweite und dritte Klasse ausschauen mögen.
Der Teppich ist verfilzt und voller handtellergroßer Flecken, Dusche und Handwaschbecken sind mehr schwarz als weiß, und es riecht im Zimmer nach Abfluss – warum, wird klar, als Petra den Entlüfter am Fußende ihres Bettes entdeckt.
„Puh“, meint sie, „dann lass uns doch lieber an Deck aufs Auslaufen des Schiffes warten.“
Im Stehen, hätte sie hinzufügen können – denn an Deck gibt es merkwürdigerweise keine Sitzgelegenheiten.

Es dauert sechs Stunden, bis alles an Bord ist – in etwa fünfeinhalb Stunden länger, als wir dachten.
„Wie gerne hätte ich noch ein paar Ausstellungen der Biennale gesehen“, seufzt Petra.

Am Tag zuvor haben wir nicht mehr alle Galerien in Kochi ablaufen können, uns fehlte die Zeit.
Und jetzt langweilen wir uns stundenlang an Bord eines Dampfers, auf dem es nicht mal Wifi gibt?
Ganz zu schweigen von Bänken an Deck?

Als es gegen halb vier Mittagessen gibt, wirft der Dampfer endlich seine Maschinen an.
Immerhin ist das Essen, das sie uns nun servieren, mehr als schmackhaft.
„Ich liiiiebe die indische Küche“, schwärmt Petra und nimmt sich noch was von dem scharfen Eintopf und dem Bohnengemüse mit Kokosraspeln.
Ich schnappe mir noch ein Roti-Brot und etwas Stippe und setze mich zu ihr.
Nach dem Essen würden wir gerne einen Kaffee trinken, aber Kaffee nach dem Essen kennt der Inder nicht. Es braucht alle unsere Überredungskünste, um aus dem Stewart eine Brühe herauszukitzeln, durch die eine Kaffeebohne offenbar durchgeschossen wurde.

Nachdem wir ein paar Stunden übers Wasser geschippert sind, wird es endlich dunkel.
Am nächsten Morgen sollen wir schon gegen elf in Kadmat sein.
Am besten, wir schlafen lange, dann zieht es sich nicht so.

Früh um sechs hämmert wer gegen die Tür.
„Breakfast!“ Dong, dong, dong. „First class! Breakfast!“
„Das ist nicht deren Ernst“, murmelt Petra verschlafen und dreht sich noch mal um.
„Breakfast!“ Dong, dong, dong.
Dong! Dong! Dong!
So lange, bis wir schließlich aufgeben und uns erheben.

Das Frühstück ist ein bisschen wie das Abendessen. Morgens um sieben kann ich warmem Eintopf mit indischen Tortillaverschnitten auch nach vier Wochen noch nichts abgewinnen.
Zu allen anderen Tageszeiten gern, aber morgens um halb sieben?
„Ich hol mir noch einen Nachschlag!“, verkündet Petra und steht auf. „Das schmeckt super!“

Die Schiffspassage dauert lange.
Sehr lange.
Unglaublich lange.
Man könnte auch sagen, sie zieht sich.
Gegen zehn erreichen wir eine Insel, die aussieht wie aus dem Reisekatalog: türkisblaue Lagune, Palmen, Sandstrand, Steg. Dort wird entladen, erst die nächste Insel ist unsre.
Dann erreichen wir Kadmat, ein längliches Eiland mit noch mehr Palmen und einer noch größeren Lagune.
Jedenfalls glauben wir, dass es Kadmat sein könnte.
Es ist schwer, herauszufinden, wie und wo der Abgang vom Boot stattfindet.
Erst müssen wir jemanden finden, der versteht, dass wir das wissen wollen.

Auf der Treppe treffe ich einen Mann, der so aussieht, als ob er auf dem Boot arbeitet.
„Kadmat?“, frage ich.
Er nickt.
„Where get off?“, beschränke ich mich auf die wichtigsten Wörter.
Er macht eine Handbewegung, die „Warten Sie bitte hier“, „Mir doch egal“ oder „Keine Ahnung“ bedeuten könnte.
„First Class?“, fragt er dann.
Ich nicke. „Yes.“
„Wait in cabin.“

„Wir sollen in der Kabine warten?“, fragt Petra, als ich wieder bei ihr bin. „Hoffentlich fährt das Boot dann nicht mit uns weiter.“
„Ich geh noch mal runter, dahin, wo wir eingestiegen sind“, sage ich. „Bleib du am besten hier, falls doch einer kommt.“

Als ich unten bin, stehen dort schon alle anderen mit ihren Taschen. Zwei indische Pärchen, die offenbar auf Honeymoon-Reise sind, ein älterer Mann, den ich auf dem Boot noch nicht gesehen hatte, und ein junger Typ, der vielleicht Saisonarbeiter ist.

Ich rase rauf zu Petra, aber die kommt mir schon entspannt entgegen.
„Der Stewart kümmert sich um die Rucksäcke.“

Es ist laut und voll unten in der dritten Klasse, wo der Ausstieg ist. Ich sehe Stockbetten, auf denen sich müde die Leute räkeln, die es sich nicht leisten können, so wie wir in einer versifften Erste-Klasse-Kabine zu logieren. Ihre Sachen liegen in den Gängen verstreut, Taschen und übervolle Plastiktüten sind übereinander gestapelt. An uns vorbei drängen sich Menschen in Uniform, und ich quetsche mich an die Wand. Hinter mir hat der Stewart die Koffer deponiert.

Endlich ist es soweit, wir werden auf das kleinere Boot hinauskatapultiert, das uns zur Mole bringen soll.
Das Wasser ist glasklar, der Strand ist so hell, dass es fast in den Augen weh tut.
Fische sehe ich von hier aus keine, die Lagune scheint leer zu sein.
Es ist unwirklich.

Am Steg wartet bereits ein Vehikel auf uns, auf dessen Ladefläche Platz für die Koffer ist – und für uns.
Als die beiden Pärchen und wir verladen sind, fahren wir auf einer wenig befestigten Straße zwischen halbfertigen Häusern und Müllsäcken, Palmen und Bauschutt über die Insel bis ans äußerste Ende.
Dort gibt es ein schwimmbadblau gestrichenes Tor, vor dem wir halten und unsere Passierscheine zeigen müssen.
Das Resort öffnet seine Pforte.
„Oh nein“, sagen Petra und ich wie aus einem Mund.

Es hatte sicher einen Grund, warum uns die Frau im von der Regierung autorisierten Reisebüro keine Bilder zeigen konnte.
Wir wären wahrscheinlich nicht hier, wenn sie das getan hätte.
Im Reiseführer steht, dass 28 kleine Hütten an einem malerischen Sandstrand stehen.
Die Wahrheit: Es handelt sich um schnöde Bungalows, die alle in schwimmbadblau gestrichen sind.
An den Funktionsgebäuden steht in weißer Schrift gepinselt: Cafeteria, Dive Center, Gym.
Wir sind eingesperrt in einem Touristenzoo, abgeschottet durch das schwimmbadblaue Tor.
Es ist nicht schön. Es wirkt ein wenig wie ein sozialistischer Freizeitpark.

Als wir an den Strand gehen, liegt überall Plastik.
Flaschen, hellblaue Fischernetze, leere Chipstüten, Bonbonpapierchen.
Ich kann es nicht liegen lassen, ich muss es aufsammeln.
Als wir an der Nordspitze der Insel stehen, habe ich die Hände voller Plastikmüll.
Tränen laufen mir über die Wangen.

Wir wollen weg.
Und sehen das Schiff in der Ferne davondampfen.
Da hilft zum allerersten Mal auch keine Kölsche Lebensweisheit.

beitragsbild kadmat2

Maggelei of the Tiger

„I want to help you, my friend“, sagt der Mann, der sich am Busbahnhof in Kumily an unsere Fersen geheftet hat. Er drängt uns in eine Ecke, greift schon nach Petras Rucksack. „My name is Zamir“, sagt er. „I want to help you.“ Er ist ein wenig kleiner als ich und hat eine drahtige Figur, seine kurzen dunklen Haare sind teilweise von einer Kappe bedeckt.

Es ist dunkel. Es ist spät. Wir haben gerade die Busfahrt aus der Hölle hinter uns, an Steilhängen vorbei und mit riskanten Überholmanövern in der Kurve. Morgen soll alles besser werden. Morgen wollen wir in den Nationalpark. Dort gibt es eine gute Chance, wilde Elefanten zu sehen.
„No“, sagt Petra, schüttelt den Kopf und zieht ihren Rucksack an sich, sieht an ihm vorbei. „We already have a hotel.“
Was ein bisschen geflunkert ist, denn wir haben uns zwar etwas herausgesucht, aber nicht reserviert. Der Name will mir partout nicht einfallen. Ich krame meinen Reiseführer heraus und blättere hektisch durch die Seiten.
„Where is it?“, will der Mann wissen.
Ich blättere weiter und atme dann auf. There is it nämlich. „Green View.“
„I take you there“, sagt Zamir. „It is my stay.“
Das ist ja ein Ding.
Was für ein Zufall!
„And is there still a room for us?“, will ich wissen.
Zamir nickt. „Come, come.“

Er führt uns zu einem Tuk-Tuk, in dem bereits ein Mann sitzt. „Please take a seat.
„We don’t go with two men“, sagt Petra entschieden und bleibt wie angewurzelt stehen.
Zamir spricht ein paar Worte mit dem anderen Fahrer, der darauf hin zur Seite rückt.
„You don’t trust me?“, fragt er, als er sich auf den Sitz schwingt. „You can trust me.“
Klar, denke ich. Warum sind wir auch immer so misstrauisch?

Auf der Fahrt erzählt uns Zamir von seiner Religion, wie wichtig es für ihn sei, vor höheren Mächten gut dazustehen. Dass das sein Leben verändere. Und dass es auch für das Leben nach dem Tod total wichtig sei.
Ich frage interessiert nach, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ein Glaube mein Leben verändern könnte. Würde ich mich dann auch anders verhalten – und wenn ja, wie? Erst zweifle ich, aber es hört sich plausibel an. Zamir hat offenbar hohe Ansprüche an sich und andere. Erstens sind wir bei ihm gut aufgehoben. Und zweitens kann sein Glaube vielleicht auch für mich irgendwann mal was verändern, wenn ich jetzt gut aufpasse.

Zamir hält vor einem hübschen Häuschen, in dessen Vorgarten einige Touris sitzen und Tee trinken.
„Let me see“, sagt er und ist schneller aus dem Tuk-Tuk, als wir gucken können.

Er geht mit forschem Schritt ins Haus, ein Wortwechsel, dann ist er wieder da. „My friend don’t have room“, meint er. „But he say next house, very nice, they have room.“
Na, wenn der Besitzer das empfiehlt, dann wird wohl alles mit rechten Dingen zugehen. Und Zamir ist ein ehrenwerter Mann.

Er fährt uns mit dem Tuk-Tuk ein wenig die Straße hinunter und hält vor einem anderen Haus. Nun, das Haus ist nicht so schön, und vor der Tür sitzt keiner, aber die Frau, die uns die Tür öffnet, ist freundlich. Und wir sind müde.
So müde, dass wir beinahe willenlos zuhören, was für Touren uns der ehrenwerte Zamir anbietet. Angeblich hätten wir zwei Tage im Vorhinein buchen müssen. Jetzt ist alles voll. Das, was wir wollen, die Borderhiking-Tour, können wir nun nicht mehr buchen, erklärt er uns, aber die Jeep-Safari wäre ohnehin viel besser für uns.
„But we don’t like to go by car“, sagt Petra. „We like to walk and borderhike.“
Ich nicke bekräftigend.
„Okay“, sagt Zamir, blättert durch die Kataloge. „But that is full.“ Er verzieht den Mund. „Jeep Safari is nice. Many animals. Go a longer way. And if you book tomorrow, maybe no place.“
Es ist spät. Wir sind müde. Wir nicken. Okay, bevor wir gar nicht in den Nationalpark kommen, nehmen wir doch lieber den Jeep.
Wir zahlen etwas an. Merkwürdigerweise hätte Zamir das gerne in Euro, warum nur?
Dann gehen wir aufs Zimmer. Im Bad wartet eine Kakerlake. Es ist kalt. Wir verkriechen uns unters Moskitonetz und schlafen sofort ein.

Am nächsten Morgen ist es immer noch kalt. Ich habe ein ungutes Gefühl, dass wir viel zu viel Geld angezahlt haben.
„Komm“, sagt Petra, weil unsere Wirtin kein Frühstück anbietet. „Wir gehen zum Green View. Vielleicht bekommen wir da etwas zu essen.“ Im Guide stand, dass der Gastgeber leckeres Frühstück im Angebot hat.

Suresh, der Besitzer des Green View, ist ein kleiner, rundlicher Mann mit einem Lächeln, das das gesamte Gesicht erleuchtet. „Good morning! What can I do for you?“
Wir bekommen Frühstück und erfahren so nebenbei, dass er doch noch Zimmer frei hat.
Komisch, aber Zamir hatte doch gestern nachgefragt?
Suresh bewegt den Kopf leicht und sieht uns ernst an.
„Well, yes, I know him“, sagt er nur über Zamir.
Wir erzählen von unserem gestrigen Abend, der raschen Buchung, und versuchen, in ihn zu dringen, aber er lässt sich zu keinem bösen Wort hinreißen.
„Look“, sagt Suresh nur, „the borderhiking tour is much nicer. The Jeep Safari is not even in the National Park. They take you to the border of Tamil Nadu, it’s a long ride, and you don’t see anything.“
Suresh ruft für uns im Nationalpark an. Dann reicht er uns eine offizielle Broschüre.
„The borderhiking is still free. Tell Zamir you went to the official place and they told you and ask him to please change. Don’t tell them I told you. Tell him to help you. It will all turn out good.“
Das versprechen wir. Na, hoffentlich geht das wirklich alles gut aus.

Nach dem Frühstück sehen wir uns sein Hostel an.
Das Green View hat einen wunderbar gestalteten Garten mit einem hohen Baum, in dem ein paar Affen herumturnen. Die Zimmer sind hell und freundlich, es gibt eine Terrasse, auf der eine junge Frau in der Hängematte liegt uns liest. Wir fühlen uns auf Anhieb wohl. Und sofort sind wir uns einig: Wir ziehen um.

Was unsere Wirtin gar nicht gut findet, als wir es ihr verklickern.
Jeder Versuch, ihr zu erklären, dass wir ohnehin vorher ins Green View wollten, ist vergebens.
„Zamir lied to us“, sage ich. „It is not your fault. But we wanted to go to Green View before.“
„You go“, sagt sie schließlich und macht eine wegwerfende Handbewegung.
Wir greifen uns unsere Sachen, sagen der Kakerlake adieu und beziehen im Green View ein helles, schönes, warmes Zimmer mit Balkon.

Dann machen wir uns auf die Suche nach Zamir. Der Tuk-Tuk-Fahrer, der vor unserem Haus wartet, ist zufällig der Junge, den er gestern aus dem Taxi gekickt hat. Wir bitten ihn, uns zu Zamir zu bringen.
Auf dem Weg überlege ich fieberhaft, was ich zu ihm sagen kann. Mein Herz klopft.
Erst, als ich ihn am Straßenrand sehe, weiß ich es.
Ich atme tief ein. It will all turn out good, sagt Suresh in meinem Kopf, und ich glaube daran.
„Zamir, my friend!“, rufe ich lauter als normal. „Sooooo good to see you!“ Ich setze noch ein breiteres Lächeln auf.
Zamir reicht mir die Hand und lächelt ebenfalls.
„Look“, sage ich. „I have a big problem.“
I tell it like it is, baby. Da musst du jetzt durch, wenn ich dir mit der naiven Tour komme.
„What is it you want?“, fragt er.
Ich erkläre ihm, welche Tour wir buchen wollten, welche wir immer noch buchen wollen und dass er uns helfen muss, die zu bekommen, weil der Nationalpark sagt, es gebe doch noch Plätze.
Er guckt sparsam und will gerade ansetzen, als ich erneut Suresh in meinem Kopf höre: Tell him to help you.
„I know you want to help us“, sage ich. „You are an honorable man. I was very impressed by what you said about your religion. That you have such high standards and that you want to do the right thing always. And I trust you.“
Zamir sieht mich lange an. Man kann ihm geradezu beim Denken zusehen.
„But I have booked the trip already“, sagt er schließlich. „They keep ten percent of the price.“
Ich rechne nach, das sind ungefähr zwanzig Euro. Er zählt mir den Rest in die Hand.
„Okay, no problem.“ Ich staune – er hat sich tatsächlich darauf eingelassen.
Schließlich verabschieden wir uns. Ich bin erleichtert. Petra klopft mir im Tuk-Tuk auf die Schulter.
„Das hast du super gemacht“, meint sie. „Ich freue mich schon aufs Borderhiking morgen.“

Während wir noch im Tuk-Tuk sitzen, klingelt das Handy des Fahrers. Er geht dran, wechselt ein paar Worte und reicht es mir dann.
Es ist Zamir.
„What is your last name?“, will er wissen. „I need it for the booking.“
Ich sage es ihm. Als ich auflege, fällt der Groschen. Wenn er jetzt zum Buchen meinen Namen braucht, heißt es, dass er den Trip zuvor noch gar nicht gebucht haben kann. Ergo: Er hat die zehn Prozent einfach so eingestrichen.
Ich bitte den Fahrer, Zamir erneut anzurufen.
„Sorry“, sage ich. „I am a little stupid sometimes. You need my name for the booking?“
„Yes.“
„But why“, frage ich und muss lächeln. „Why did you not need it before? I mean, I believe you and your religion forbids you to cheat. But if did you not book the trip beforehand – why do we have to pay you ten percent?“
„That was not for me …“ Seine Stimme wird undeutlich. „It was for the tourist office. But let me see …“
„My friend, that is so nice of you. You are very helpful.“ Ich lasse ein Strahlen in meiner Stimme aufscheinen. „Will we see you tomorrow and you give me the money?“
Er macht ein unwirsches Geräusch. „Okay“, sagt er dann. „I will come by your hotel in the morning.“

Und das macht er dann auch, während wir auf den Spuren des Tigers durch den Periyar Nationalpark borderhiken und dort unversehens auf ein paar Elefanten stoßen, die einen Baum entblättern.

Als Suresh uns abends die Scheine in die Hand drückt, die Zamir dagelassen hat, sagt er: „It all turns out good.“
Und hat damit den ersten Artikel formvollendet wieder gegeben: „Et hät noch evver jot jejange.“
Wer braucht schon Religion, wenn er das Kölsche Grundgesetz hat?

PS: Namen und Orte wurden geringfügig geändert, um niemanden zu verletzen – nur das Green View nicht, ein bezaubernder Ort mit ausgesprochen netten Gastgebern!

Beitragsbild_Suresh

Von hinten wie von vorne A.M.M.A.

Wir sind auf den Backwaters Keralas unterwegs in den Ashram der Amma, einem der wenigen weiblichen Gurus Indiens.
Ich habe noch nie einen getroffen, weder einen männlichen noch einen weiblichen. Und bei all der Spiritualität muss hier doch ein Funke des Kölschen Grundgesetzes zu entdecken sein.
Und dann ist da noch ein Gedanke: „Ob man auch in meinem Alter noch Guru werden kann?“, überlege ich.
„But why?“, fragt Petra und fächelt sich mit ihrem Reiseführer Luft zu. Eine Frage, die in Indien so ziemlich auf alles passt.

„Die haben ein angenehmes Leben, die Arbeit hält sich in Grenzen und sie haben immer Gesellschaft“, sage ich. „Außerdem können sie ihren Anhängern vorschreiben, was die tun sollen. Ich würde direkt mal ansagen, dass tierische Produkte out sind, Kokosraspeln und Polentaklößchen auf der schwarzen Liste stehen und dass bei meinen Zeremonien Depeche Mode gespielt wird. Noch Fragen?“
Petra grinst und schüttelt den Kopf.
„Guru kann man doch nicht werden“, sagt sie. „Guru ist man. Das war die Amma schon, als sie noch ganz klein war.“
Muss sie meine Hoffnung auf eine berufliche Fortentwicklung so rasch zerstören?

Gegen zwölf legen wir zu einem einfachen, aber köstlichen Mittagessen an. Neben gekochtem Reis duftet es aus den Töpfen nach Sambar, es gibt ein Curry mit grünem Gemüse, das ich als irgendetwas zwischen einer Bohne und einer Okraschote identifiziere, dazu scharfe rote Sauce mit eingelegten Limetten und Papadams.
Hoffentlich gibt’s im Ashram ordentliches Essen, denke ich. Das hält immerhin auch im Rheinland Leib und Seele zusammen. Wäre ich der Guru, würde ich so etwas wie das hier verordnen. Aber ich vergaß – das wollte ich mir ja abschminken.

Nach dem Futtern geht es noch eine Stunde weiter zwischen Palmen und einfachen Hütten über die ruhigen Fluten, bis linkerhand die rosa Hochhäuser des Ashrams auftauchen.
Wenig später gehen wir über die prächtige Brücke, die auf die Halbinsel führt, auf der die Mission liegt.

Nach dem Bezug des spartanisch eingerichteten, aber sauberen Zimmers im fünften Stock eines der rosa Ashramtürme, führt uns ein weiß gewandeter Holländer, der schon seit zehn Jahren hier lebt, über das Gelände. Die Amma hat zahlreiche soziale Projekte angestoßen und scheint in so ziemlich jeder Notlage zu helfen, sei es bei Erdbeben, Überschwemmung oder Bildungskatastrophe.
Check, denke ich: Wenn ich erst Guru bin, dann mache ich das auch. Ich muss nur rausfinden, was das Rezept der Amma ist. Dann kann ich es kopieren.

„Ihr hätt Glück, die Amma ist da“, erklärt uns eine Deutsche. „Bald macht sie ihre Tour dursch dä Süde, da hätt ihr kei Darshan bekomme.“
Darshan?
„Der Darshan ist eine Umarmung, jeder will des habe – des is das Special von de Amma“, sagt die Frau und lacht. „Des könnt ihr euch heut Abend glei gebe lasse, nach der Meditation am Strand.“
Am Strand?! Vielleicht geht da doch noch was für Quereinsteiger. Ich muss nur gut aufpassen und mir ein eigenes Special ausdenken. Wat däm ein sing Ül eß däm andere sing Naachtijall. Wär doch gelacht – der mache ich Konkurrenz!
„Ich könnt was essen“, sagt Petra.
Doch die Führung über das Gelände dauert so lange, dass wir sonst die Abendmeditation verpassen. Mit knurrenden Mägen eilen wir an den Strand.

Hunderte anderer Menschen sitzen schon auf Plastikstühlchen um ein Podest am Strand herum. Über uns in den Kokospalmen krächzen die Raben.
Kurz nachdem wir Platz genommen haben, geht ein Raunen durch die Menge. Die Leute erheben sich, ein Trupp Personenschützer rückt an, in der Mitte eine kleine rundliche Frau im Sari.
Also das mit den Wächtern finde ich doof. Wenn ich erst Guru bin, wird das abgeschafft.

Als die Amma auf dem Podest Platz genommen hat, beruhigt sich die Menge langsam, dann beginnt die Meditation.
Neben mir höre ich nach einer Weile ein Rascheln und Kichern. Ich pliense unter den geschlossenen Lidern hervor. Der weiß gekleidete Typ vor mir dreht sich um und grinst breit. Ich schaue zu Petra, die sich neben mir irritiert über den Kopf streicht und dann ihre Hand ansieht.
„Also, ich habe meinen Segen schon“, flüstert sie mir zu. „Mich hat gerade ein Rabe angekackt.“
Ehrlich gesagt: Ich finde, das ist viel lustiger als die Meditation.

Am Ende der Meditation stellt jemand Amma eine Frage und sie antwortet sehr ausführlich. Petras Magen rumort. Jemand übersetzt ausufernd, und bei mir macht sich die Langeweile breit. Alle lächeln beseelt. Mein Magen rumort.
„Wer nur heute hier ist, bekommt jetzt einen Darshan!“, ruft der Ansager schließlich. „Morgen gibt es noch mal Darshan nach dem abendlichen Mantrasingen. Mittags teilt Amma Prasad aus – gesegnetes Essen.“
Morgen?! Ehrlich gesagt, ich würde auch gleich ein Essen nehmen. Ich habe nämlich jetzt ernsthaft Hunger. Und umarmt werde ich sowieso am liebsten von meinen Freunden.

Um die ganze Erfahrung mitzunehmen und weil wir morgen wieder abreisen, stellen wir uns in die Schlange, die schon lang ist und immer weiter anwächst.
Mannomann, das muss ja eine tolle Umarmung sein, so wie die sich hier alle danach strecken. Vielleicht gibt’s ja doch was zu essen. Ich könnte.
Also bei mir gäbe es einen Automaten, an dem man Nümmerchen ziehen kann. Dann könnten alle im Sitzen warten. Je näher wir kommen, umso deutlicher wird der Herdencharakter der ganzen Veranstaltung: Die Wächter der Amma ziehen die Leute heran.
„Where you from, where you from?“, höre ich sie rufen.
Plötzlich bin ich dran.
Unsanft werde ich an die Brust der Amma geschubst.
„MeineLiebemeineliebemeineliebe“, murmelt sie mir ins Ohr.
Dann drückt sie mir etwas in die Hand und ich werde zur Seite gedrängt.
„Was ist das eigentlich?“, fragt ich Petra, als wir uns ein paar Meter weiter wiedersehen.
Das Päckchen entpuppt sich als ein Tütchen voller – wahrscheinlich heiliger – Asche und ein Zückerchen.
„Ich muss jetzt dringend was essen“, sage ich. „Und zwar mehr als ein Bonbon.“
Petra nickt. „Lecker Kölsch wäre auch schön.“
Aber natürlich ist das hier verboten.
„Das wird bei mir alles anders“, fange ich an, doch Petra hebt die Hand.
„Du willst doch nicht wirklich Guru werden“, sagt sie.
Die Stimme der Vernunft.
Ich überlege.
Die Personenschützer.
Die rosa Gefolgstürme.
Die langen Meditationszeiten
Und vor allem die Bierlosigkeit.
Wenn ich all das verändere, ist es einfach kein Ashram mehr.
Und ich hätte wirklich mal wieder Lust auf ein lecker Bierchen.
„Lass uns morgen abreisen“, sage ich schließlich zu Petra. „Die Karawane zieht weiter, der Guru hät Durst.“

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Zusatzartikel: „Nit alles, wat en Loch hät, is kapott“

„Such du dir einen aus“, sage ich zu Petra, immer noch ein wenig müde vom guten Essen im Coffee Temple in Varkala.
Wir haben beschlossen, mit dem Taxi nach Kollam, dem früheren Quilon, zu fahren. Die Kerle mit den kleinen Wagen stehen erwartungsvoll in einer Reihe.
„Wann hat man das schon mal?“, meint Petra. „An Männern mangelt es hier ja nicht.“
Und das gilt nicht nur für Taxifahrer.
Viel mehr Männer als Frauen hängen auf der Straße ab.

Auch das beste Stück des Mannes ist überrepräsentiert. Viele der Tempel in Tamil Nadu sind dem Lingam von Shiva gewidmet. Es gibt Steinpenisse in allen Größen und für jeden Geschmack. Sogar der Lonely Planet verspritzt angesichts schöner Exemplare eine Ladung fast poetisch anmutender Worte: Der Strandtempel in Mamallapuram habe zwei Dächer, las ich dort, auf deren Spitzen Shivas Penisse prangen, und diese „original Lingams fangen den Sonnenaufgang und -untergang wunderbar ein.“ Wie soll denn in so einem Penis was untergehen? Dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist, wissen im Grunde auch die Hindus. Manchmal wird der Lingam daher mit Yoni drumherum dargestellt – dann baden die Priester und Gläubigen die Skulptur auch gern mal in flüssiger Butter. Im Sri-Menaakshi-Tempel in Madurai wurde allerdings jüngst der gute Brauch verboten, dass die Gläubigen mit Butterkugeln nach dem besten Stück warfen: wegen der Rutschgefahr.

Der Geschlechtsakt ist also in Indien von kulinarisch-spiritueller Bedeutung: Mit kopulierenden Penissen und Vaginas wird die sexuelle Energie angebetet, die zur Erleuchtung führen soll, so hat es mir Christopher erklärt. So schön das klingen mag, die Einheit von Männlichem und Weiblichem und Göttlichem – im indischen Alltag findet man sie nicht wieder.

Männer rufen uns hinterher, ziehen uns in Läden und schieben sich durch die öffentlichen Verkehrsmitteln. Viele sind freundlich, aber manche rotzen auf die Straße, sind laut und schubsen uns beiseite. Diese Männer behandeln uns wie lästige Fliegen. Wie wir in Varkala an der Shoppingmeile erfahren haben, können auch manche Frauen nervig sein – aber sie sind einfach in der Minderheit.

„Ich habe gelesen, wie gefährlich es hierzulande ist, eine Frau zu sein“, sage ich, als wir die Rucksäcke verladen haben und schließlich in den Wagen steigen. Dabei denke ich an Vergewaltigungen, Brautverbrennungen und Touristinnenmorde. „Ich bin schon froh, dass wir zu zweit unterwegs sind.“

Fast jeder, dem ich zuvor von unserer Reise erzählt hatte, fühlte sich befleißigt, die Ängste vor dem Subkontinent zu schüren.
„Oh Gott, Indien!“
„Passt auf, dass ihr nicht vergewaltigt werdet!“
„Warum fahrt ihr nicht nach Teneriffa?“
Die Sorge von Freunden und Bekannten hat sicher mit dem Fall des brutalen Gang Rape einer 23-jährigen Studentin in Delhi im Dezember 2012 zu tun, der durch alle Medien ging. Aber auch ohne Gewalt sieht’s duster aus fürs so genannte schöne Geschlecht. Zwar haben die Frauen in Tamil Nadu und auch in Kerala größere Freiheiten als im Rest des Landes, aber von Gleichberechtigung ist das weit entfernt. Jeden Tag ist auf Seite eins der englischsprachigen indischen Zeitungen von einer Vergewaltigung zu lesen. Zum ersten Mal bin ich froh, dass ich doppelt so groß wie die meisten Männer bin. Was sonst den Kreis möglicher Partner verkleinert, ist hier ein großes Geschenk.

„Ach komm, denk mal an die Chinesin Delia, die wir getroffen haben“, erinnert mich Petra. „Der ging’s doch gut.“
Und auch die Belgierin im letzten Home Stay, denke ich. Aber Belgierinnen und Chinesinnen sind auch aus ganz anderem Holz geschnitzt. Die haut so leicht nichts um.

Was, wenn die gleichen Regeln aus Indien in Deutschland gelten würden? Dann hätte mein Arbeitgeber in Köln mich vielleicht bei Dienstantritt auf meine Jungfräulichkeit hin untersucht – so wie indische Frauen dies vor dem Eintritt in den Polizeidienst über sich ergehen lassen müssen. Oder ich hätte zwar studieren können, wäre aber bei Heirat natürlich ins Heim und an den Herd berufen worden. Nur 10 Prozent der Parlamentarier in Indien sind Frauen. Da ist doch mal eine Quote fällig.

„What’s your good name?“, fragt unser Fahrer.
Als er mir über die Lehne hinweg nach hinten die Hand reicht, ergreife ich sie. Davor warnt der Reiseführer, das weiß ich, aber manchmal mache ich es aus Reflex doch.
Habe ich mich geirrt, oder hat er gerade mit dem Daumen über meine Handinnenfläche gerieben?
Ach komm, das wird schon nichts bedeuten, denke ich mir. Das habe ich mir bestimmt eingebildet.

Nach einiger fruchtloser Plauderei, die an seinem schlechten Englisch scheitert, bei der wir aber erfahren, dass er ledig ist, setzt er uns vor dem Hotel in Quilon ab.
Der Hof vor dem Hotel ist triste, im Rinnstein liegen alte Plastiktüten und Orangenschalen.
Petra geht schon mal vor, um die Unterlagen auszufüllen, ich bleibe mit dem Fahrer zurück, um mich um die Bezahlung zu kümmern.
Ich drücke dem Fahrer einige Scheine in die Hand. Er ergreift meine Rechte, tätschelt mit der Linken zuerst freundlich meine Schulter, so als wollte er mich an sich ziehen. Mit einer aalglatten Bewegung fährt er mir dann plötzlich mit der Linken über meine Brust, ohne meine Hand loszulassen. Mitten auf der Straße, am helllichten Tag. Vor einigen Tagen habe ich Petra erklärt, da solle nur mal einer versuchen, mich anzutatschen. Und jetzt? Stehe ich da wie vom Donner gerührt. Meine linke Gehirnhälfte möchte ihm gerne eine knallen, meine rechte verharrt in der Schockstarre, während ich ihn seelenruhig in sein Taxi steigen und davonfahren sehe.

Petra, die aus dem Hoteleingang kommt, will gut gelaunt ihren Rucksack ergreifen. Sie sieht mich an. „Was ist denn?“
„Der Typ eben …“, sage ich und erzähle ihr von dem unerfreulichen Erlebnis. „Das gibt’s doch nicht!“
„Ab jetzt nur noch Namaste mit zusammengelegten Händen“, sagt sie pragmatisch. „Und Abstand halten.“
Weil die Stadt Kollam recht unansehnlich ist und das Erlebnis noch nachwirkt, reden wir an diesem Tag lange darüber, wie sehr Indien in Hinblick auf Frauenrechte ein echtes Entwicklungsland ist. Vieles hier ist wunderbar, wir haben zauberhafte Menschen getroffen – männlichen und weiblichen Geschlechts -, aber eben auch viel Unrecht und Ungleichheit gesehen. Und heute bin ich wie schon oft froh und dankbar, in einem fortschrittlicheren Teil der Welt zu leben. In Köln.

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Verliebt in Madurai

„Du wirst dich in Madurai verlieben“, ruft Petra, die mit ihrem schweren Rucksack hinter mir her durch das Gedränge auf dem Busbahnhof von Trichy hastet.
Woher weiß sie das? Hat Indiens Spiritualität so stark auf sie gewirkt, dass Petra jetzt schon in die Zukunft gucken kann? Und selbst, wenn: Ich bin doch gar nicht auf der Suche nach einem Mann!
Um diesem komplexen Gedankengang Ausdruck zu verleihen, reicht meine Kraft in der Hitze nicht. „Hä?“, rufe ich zu ihr zurück.
„Madurai soll die Seele von Tamil Nadu sein“, schreit Petra. „Der Reiseführer sagt, dass wir an diese Stadt unser Herz verlieren werden.“
Ach so. Dann bin ich ja beruhigt.

Wir quetschen uns vorbei an einem Stand, an dem fettige Samosa-Gemüseteigtaschen und duftende scharfe Pakoras feilgeboten werden. Obwohl das Duschwasser aus dem Krishna Inn noch nicht lange auf meiner Haut getrocknet ist, merke ich, wie mir ein Rinnsal Schweiß über den Rücken läuft.
„Maderimaderimaderi!“, ruft ein Mann in khakifarbener Uniform wie ein Maschinengewehr. „Maderimaderimaderi!“

Petra bleibt bei ihm stehen. „Excuse me, Mister. Is this the Bus to Madurai?“
Er bewegt den Kopf ein paar Mal hin und her. Noch vor Wochen hätten wir angenommen, dass er die Frage verneint. Jetzt wissen wir: Jawoll, das ist unser Bus.
Wir erklimmen die steilen Stufen ins Businnere, streifen die Rucksäcke ab und lassen uns auf den Sitz fallen.

Madurai, so erklärt mir Petra, soll die geheime Hauptstadt von Tamil Nadu sein.
„Als Kölner sind wir dann ja hier genau richtig“, meine ich. „Immerhin denken wir ja auch, dass wir in der heimlichen Hauptstadt leben.“
„Ich bin doch keine Kölnerin.“ Petra schaut mich empört an. „Ich bin Norddeutsche und lebe nur in Köln!“
Stimmt natürlich, schließlich ist sie in Jarmen in Meckpomm geboren.
Aber haben die Jahre in der Domstadt nicht doch ein bisschen abgefärbt?

Auf der anderen Seite des Ganges sitzt ein Pärchen. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, hat feine Gesichtszüge, ihre glänzenden schwarzen Haare schauen unter dem Schal des Saris hervor. Sie dreht sich zu uns herum, lächelt und nickt zum Gruß. Dann reicht sie uns eine Tüte mit viereckigen Süßigkeiten aus Erdnüssen und Karamell, die auch an den Ständen im Bahnhof verkauft werden, und köstlich auf der Zunge schmelzen.

„Maderimaderimaderi!“
Außer dem Schlachtruf des Busfahrers dringen Stimmengewirr, Hupen und anfahrende Wagen zu uns herein. Durch das trübe Frontfenster, auf dem außen POINT TO POINT steht und innen ein Sticker mit den rundlichen Zügen von Shiva klebt, sehen wir einige Männer rennen, die kurz darauf das Innere unseres Gefährts erklimmen.

Der Mann in der Uniform klettert nun ins Fahrerhäuschen und lässt den Motor aufheulen. Es riecht intensiv nach Benzin. Er drückt ein paar Mal auf die Hupe – ein schier unerträglich lauter Sirenenton. Es ist so heiß, dass der bunte Hippierock, den ich mir gekauft habe, an meinen Beinen klebt und wir beide auf unserer Plastiksitzbank vor uns hin schwitzen, selbst an den Unterarmen.
Der Fahrer manövriert mit so viel Schwung rückwärts aus der Busparklücke, dass wir uns an der Metallstange des Vordersitzes fast die Zähne ausschlagen.
Petra und ich sehen uns an.
„Ich liebe Busfahren in Indien!“, rufen wir gleichzeitig.

Das Pärchen lehnt sich zurück. Der Mann legt den Arm um seine Liebste, seine Hand liegt lässig auf der Lehne.
Wie schön! Der Busfahrer kurvt um die Ecken, als wäre dies sein allerletzter Trip – und hier im Bus wird nicht nur Petra und mir warm vor Glück. Mit dem Fahrtwind kühlen wir etwas ab, das Gefühl bleibt.

Nach einer vierstündigen Fahrt mit Pinkelpause und Stippvisiten in allen kleinen Orten auf dem Weg, erspähe ich schließlich auf den staubigen Werbetafeln am Straßenrand das Wort Madurai. Wenig später schlingern wir durch eine Straße, die ihren Haupterwerb aus dem Verkauf von Zwiebeln zu ziehen scheint.
„Falls du mal weinen möchtest, solltest du vielleicht hierher kommen“, meint Petra trocken.
„Weinen? Soll ich mich etwa unglücklich in diese Stadt verlieben?“
Sie lacht und schüttelt den Kopf. „Jedenfalls geht Liebe durch den Magen. Hunger?“
Eine blendende Idee. Indisches Essen liebe ich nämlich sehr. So sehr, dass ich froh bin über die Hose mit Gummibund, die mir ein Schneider in Mamallapuram angefertigt hat.

Nachdem wir unser Gepäck in der Unterkunft deponiert haben, beginnen wir mit der Futtersuche. Der Reiseführer schlägt ein Restaurant in der Nähe vor. Mit dem Buch in der Hand fahnden wir danach.
„Where you headin?“ Ein großer, kräftiger Mann mit heller Haut und Basecap hält uns an. Ami? Neuseeländer? Australier?
Kanadier – und klassischerweise auch noch Holzfäller.

Wir kommen ins Gespräch, und da Christopher gerade ebenfalls der Hunger plagt, sitzen wir bald darauf in seinem Lieblingsgasthaus, dem Sri Sabareesh in der Nähe des Bahnhofs. Es quillt schier über vor Menschen, denen die Küchenjungs ein Bananenblatt vorlegen, auf das sie aus verschiedenen Töpfen Reis, Pappadams und bunte, wohlriechende Soßen und eine Art würzigen Kartoffelsalat klatschen. Ein typisches indisches Mittagessen, dieses Thali, das immer wieder nachgefüllt wird, solange man hungrig ist.
„Mmmmmh.“ Petra steckt sich mit den Fingern noch etwas Reis mit Sambar in den Mund, dann noch ein wenig würzige Kartoffelmatsche hinterher.
Ich bin schon satt, knabbere aber trotzdem noch an einer in Salzlake getrockneten Chilischote, gar nicht scharf, eher aromatisch.

Christopher war als Kind mit seiner Mutter in Oshos Ashram.
„Ich verbringe hier den Winter“, erklärt er. „Ist günstig, und was soll ich zu Hause sitzen, wenn ich da ohnehin keine Arbeit habe?“
Ihn interessieren Religion, Sprache und Geschichte und so ist er auf der Suche nach neuer Lektüre – so sehr, dass er jedes Jahr ein paar Kilo Bücher nach Hause schickt. Er hat vor, zur Buchmesse nach Kalkutta zu fahren.
„Da habt ihr ja was gemeinsam“, ruft Petra entzückt. „Anne ist Autorin und sie fährt jedes Jahr auf die Buchmesse in Frankfurt.“
Ihre Augen glänzen, während ihr Blick zwischen uns hin und herwandert.
„Die Preise der Post sind allerdings gestiegen, dieses Jahr werden es wohl weniger“, meint er und wischt sich mit der Hand über den Mund. „Vielleicht nur zwanzig Kilo.“
Der Typ ist nett. Aber wann will er das alles nur lesen?
„Es gibt eben so viele interessante Bücher“, sagt er und erzählt von einem, das belegen soll, dass alle Religionsführer eigentlich Yogis waren.
Ich runzele die Stirn. Hätte ich das nur gewusst, als ich mich mit dem Thema Religion beschäftigte.

„Habt ihr Lust, in den Tempel zu gehen?“, fragt Christopher.
„Au ja“, ruft Petra. „Anne findet es bestimmt toll, wenn du uns begleitest!“
Nun, warum nicht.
Auf dem Weg zum Tempel geht sie in einigem Abstand hinter uns her. Christopher und ich unterhalten uns zwar angeregt, aber ich werfe immer wieder einen Blick zurück, um zu sehen, ob sie nicht verloren gegangen ist.

Der Sri-Meenakshi-Tempel ist einer der schönsten, die wir bisher gesehen haben, das Essen war eines der leckersten, die wir je gegessen haben, und Madurai hat ein angenehmes Tempo, eine sehr relaxte Atmosphäre.
Trotzdem scheint irgendetwas mit Petra nicht in Ordnung zu sein. Sie ist so still.

„Alles okay?“, frage ich sie, als wir im Tempel die Deckenverzierungen bewundern.
„Wenn ihr gerne mehr Zeit zusammen verbringen möchtet, dann unternehme ich einfach was alleine.“ Petra sieht mich erwartungsvoll an.
Warum schlägt sie das vor – ich bin doch mit ihr hier? „Aber der hat doch bestimmt keine Zeit. All die Bücher, die er noch lesen muss.“
„Ich glaube, dem bist du nicht egal“, sagt sie.
Ich zucke mit den Schultern.

Erst, als wir wieder auf der Straße sind, fällt bei mir der Groschen. „Ach, du meinst, Christopher könnte der Grund sein, warum ich mich in Madurai verliebe?“
„Na klar, hübsch ist er ja. Und Holzarbeiter. Der kann sogar eine große Frau wie dich hochheben.“
Ich muss lachen und schüttele den Kopf.
Christopher ist nett. Ob er ein Mann für mich wäre, weiß ich nicht.
Was ich allerdings weiß: Petras Jahre in Köln haben tatsächlich auf sie abgefärbt. Oder zumindest der Karneval, in dem es hauptsächlich um das Eine geht.
Ich beginne eine bekannte Melodie zu summen.
„Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust …“
Nun muss auch Petra schmunzeln.

Ich lasse den Blick schweifen. Das bunte Treiben um mich her gefällt mir. Eine ayurvedische Apotheke, die überquillt vor Töpfchen, Tübchen und Tiegelchen. Ein Kunstgeschäft, indem dunkle und bemalte Holzarbeiten angeboten werden. Eine Gruppe von Frauen mit bunten Saris und einige Männer, die vor einem Haus Chai aus kleinen Gläsern trinken.
Ja, ich bin bereit, mich zu verlieben.
Vielleicht erst mal in diese Stadt.

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I can get no disinfection

Chidambaram. Lautmalerisch steht der Name dieser Stadt bestimmt für „Tschingderassabum“.
Die Heimat des angeblich heiligsten Shiva-Tempels zeichnet sich nämlich durch ihren enormen Klangteppich aus. Wenn man Glück hat, mischen sich ins Motorenknattern noch schepperige Klänge aus einem Lautsprecher. Und das Wort Hupkonzert bekommt hier eine ganz neue Bedeutung. Wer direkt an der Straße beim Tempeleingang wohnt, hat die ganze Nacht Spaß. Und auch Gäste, die in den Seitengassen residieren, kommen voll auf ihre Kosten, wie wir schnell merken.

Bisher hatten wir mit dem erstbesten Zimmer stets Glück. Hoffentlich ist das hier auch so. Von der langen Busfahrt aus Pondicherry sind wir wirklich geschlaucht.

Das „Saradharam“ ist laut Reiseführer die beste Adresse.
„Aber das liegt neben dem Busbahnhof“, sage ich. „Ist doch bestimmt viel zu laut.“
Petra zuckt mit den Schultern. „Wie du magst. Wir können auch erst was anderes anschauen.“

Die zweite Adresse, das Hotel Akshaya, liegt in direkter Nähe zum Tempel. Wie praktisch!
Von außen schaut es ganz manierlich aus. Der Eingang liegt in einer lauschigen Tiefgarageneinfahrt. In der Rezeption erwartet uns ein gelangweilter Portier. Er drückt dem Pagen einen etwas ranzig wirkenden Schlüssel in die Hand, worauf der uns in den zweiten Stock führt. Das Zimmer ist von überschaubarer Größe und hat ein Bad, in dem sich selbst Oscar aus der Mülltonne nicht lange aufhielte. Die Nachttischchen sind von einem Fettfilm überzogen, unsere Schuhe kleben am Boden. Och nö.

In der Mansoor Lodge auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckt Petra beim Betreten des Zimmers einige Kakerlaken von beeindruckender Vitalität. Es ist ist dunkel.

Das Hotel Grand Park hingegen ist beleuchtet wie ein Casino in Las Vegas, und auch hier ist der Artenvielfalt Tür und Tor geöffnet. Genauer gesagt: Fenster – denn der Insektenschutz vor selbigem hat ein Loch, durch das auch faustgroße Krabbler ohne Mühe Kontakt suchen können.

Wäre ein Aufenthalt im Ritz gleich um die Ecke überhaupt erschwinglich? Der Reiseführer lobt es als das beste Hotel am Platz. So nobel wollen wir eigentlich nicht wohnen, aber es ist spät und wir sind erschöpft. Das Zimmer ist selbst ohne Moskitonetz und mit der Funzel, unter der bereits einige Mücken kreisen, bezaubernd. Es hat nur einen kleinen Schönheitsfehler, nämlich keine Dusche. Wir lehnen ab.

„Haben wir zu hohe Ansprüche?“ Ich kann nicht verhindern, dass ich latent verzweifelt klinge.
Petra grinst. „Diese verweichlichten Touristen von heute halten wirklich nix mehr aus.“ Zumindest sie hat sich ihren Humor bewahrt.

Der Zimmerjunge des Ritz deutet auf die gegenüberliegende Straßenseite. Das RK Residency – ein heißer Insidertipp!

Mit Sack und Pack beladen kraxeln wir die Treppen hinauf. Das Zimmer ist, abgesehen von den schmuddeligen Laken, von herausragender Sauberkeit.
Man sagt ja, alles sei relativ.
„Wat wells de maache?“, fragt Petra und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Ich kann nicht mehr.“ Sie lässt sich aufs Bett plumpsen.
Ich schnalle mir den schweren Rucksack ab.
Wir bleiben. So erledigt, wie wir sind, bekommen wir von der Unterkunft sowieso nur sehr wenig mit.

Bei einem kleinen Stadtrundgang bekommen wir Appetit. Der Reiseführer schlägt das Anupallavi vor, ein Restaurant, das zum Hotel Saradharam gehört.
„Kommt mir irgendwie bekannt vor“, sage ich.
„Das ist das neben dem Busbahnhof“, meint Petra. „Da war’s uns zu laut.“
An die Klangkulisse haben wir uns inzwischen gewöhnt, da kann auch der Busbahnhof nicht mehr schrecken. Und beim Essen stört das Gehupe ja auch nicht.

Das Hotel liegt etwas zurückgesetzt hinter einer Tanke, aber der Eingang sieht respektabel aus. Nebenan befindet sich das Restaurant, das ein ausgesprochen scharfes, aber umso schmackhafteres Gemüsecurry im Angebot hat. Beschwipst von den Gewürzen, beschließen wir uns nur so zum Spaß mal ein Zimmer anzusehen. Der Portier ist freundlich. Es ist sauber. Das Bettzeug hat nur wenige Löcher. Es riecht allenfalls dezent nach Abfluss im Bad. Hat aber eine Dusche. Die Insekten sind, wenn welche da sind, keine Rampensäue. Und es gibt W-LAN! Verglichen mit allem, was wir heute gesehen haben, ein Palast.

Kurzerhand holen wir unser Gepäck aus dem RK Residency und checken im Saradharam ein.
„In Chidambaram gilt jedenfalls: Et hät noch immer jot jejange!“, denke ich noch, als wir im Bett liegen. Und dann fallen mir auch schon die Augen zu.

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Puducherry, Cherry Lady

„Nennen wir es denn jetzt Pondicherry oder Puducherry?“, fragt Petra.
Ich zucke mit den Achseln. „Keine Ahnung … Pondicherry? Pudu klingt in meinen Ohren etwas nach Pudel – und cherry, kommt das von Kirsche oder von Chérie?“

Diese Umbenennerei – Bombay in Mumbai, Madras in Chennai – ist verwirrend. Ja, sicher ist es sinnvoll, sich von den ehemaligen Besatzern durch die indischen Städtenamen abzugrenzen. Aber ändert das nicht genau so wenig wie die Umbenennung vom Arbeitsamt in „Ihre Agentur für Arbeit“, wenn die meisten Einheimischen, mit denen wir gesprochen haben, nach wie vor die alten Namen verwenden?

Ob Pondi oder Pudu, in der ehemaligen Hauptstadt von Französisch-Indien fühlen wir uns sofort pudelwohl. Es mag an den farbenfrohen Kolonialbauten in der Altstadt liegen, am geschäftigen Treiben oder auch daran, dass der Wirt vom Guest House Taucher ist wie ich (eine kleine Fachsimpelei über die besten Tauchgebiete ist im Check-in inbegriffen) – und seine Frau gutes Englisch mit französischem Akzent spricht. (Eigentlich ist dieser Blog werbefrei, aber hier ist es einfach zauberhaft: www.dumasguesthouse.com. Wann immer ihr mal in der Gegend seid: Mit seinem grünen Innenhof, den schön gestalteten Zimmern und dem freundlichen Service ist das Dumas Guest House eine gute Wahl.)
In jedem Fall freuen wir uns auf die Zeit, die wir hier verbringen werden. Und wir sehen – nach langer Zeit der Abstinenz – einem Event besonders entgegen: einem gemütlichen Glas Wein am Abend.

Wie wir darauf kommen, dass es hier guten gibt?
Pondi ist wie Kölle: Der Ashram von Sri Aurobindo ist so in die Stadt verwoben und so reich, dass er uns an den Kölschen Klüngel erinnert – die Stadt ist sozusagen auromatisiert. Auch in Puducherry ist kürzlich ein öffentliches Gebäude eingestürzt – allerdings das Rathaus, nicht das Stadtarchiv. Und Pondi teilt mit Kölle die französische Besatzungsvergangenheit.

Wegen dieser französischen Vergangenheit soll man hier einen guten Wein bekommen können, besser als an jedem anderen Ort in Indien. Also machen wir uns, als es dunkel wird, auf in eine vergleichsweise noble Bar in der Nachbarschaft unseres Guest House.

Ein junger Mann im gestärkten weißen Hemd und schwarzer Kellnerhose bringt uns die Karte.
„We have three red wines“, erklärt er, schlägt die Karte auf und deutet mit der rechten Hand auf die Auswahl an Weinen. „Which one you prefer?“
Petra und ich schauen näher hin. Ein südafrikanischer mit Mountains im Namen, ein Rioja und der Hauswein ohne genaue Herkunftsbezeichnung.
„We like the South-African“, sagt Petra, nachdem wir uns kurz beraten haben. Südafrikanische Weine halten wir beide für narrensicher.

Der Kellner geht und kommt kurze Zeit darauf zurück mit einer Serviette über dem Arm und einer Flasche mit Schraubverschluss, die er uns mit höflicher Geste präsentiert. Mit Schmackes stellt er zwei Gläser auf den Tisch und schenkt in eines einen Schluck Wein ein.
Petra trinkt und reicht mir das Glas.
„Das schmeckt ja grauenhaft“, sagt sie, in einem Ton, als würde sie einfach nur interessiert mein fachliches Urteil einholen. „Ich bin zwar kein Weinkenner, aber das kriegt doch kein Mensch runter. Probier mal.“
Ich nehme das Glas und trinke. Wirklich erstaunlich, irgendwie … toxisch.
„Sorry, we don’t like it“, sagt Petra, aber so schnell will sie nicht aufgeben. „Can we try the Spanish wine, Mister?“
Es dauert keine Minute, bis er uns eine weitere Flasche präsentiert. Die Geste, mit der er elegant eine Kostprobe einschenkt, verheißt einen trockenen Rotwein mit Aromen von Kirschen und Vanille.
Ich nippe und bin mir sofort klar: Dagegen schmeckt der billigste Fusel wie die Nummer eins im Gault Millau.
„Äh, was machen wir denn jetzt?“ Ich schaue Petra hilflos an. „Was, wenn uns der dritte auch nicht schmeckt?“
„Der muss doch gut sein“, sagt sie. „Immerhin ist es der Hauswein, und den muss man als Restaurant sorgfältig auswählen. Sonst zeigt man, dass man keine Ahnung hat.“
Sie sieht den Kellner mit unschuldigem Blick an. „Sorry, can we taste the house wine?“
Der Kellner lächelt angestrengt und bringt die dritte Flasche.
„You like it?“, fragt er.
Petra und ich nehmen jeder einen Schluck. Es schmeckt, als wenn jemand Traubensaft mit Motoröl versetzt hat.
Wir sehen uns an.
„Den können wir doch nicht bestellen“, sagt Petra. „Davon kriege ich keinen Tropfen runter.“
Aber wie vermitteln wir das dem Kellner?
„It tastes like … petroleum“, sagt Petra nach kurzem Zögern und schenkt dem Kellner ihr schönstes Lächeln. „Can we have a beer instead?“
Der Kellner wirkt ein wenig perplex, bleibt aber freundlich. „Sure, Madam.“
Als er weg ist, muss ich lachen. „Petroleum?“
„Naja“, meint Petra. „Soll man lügen?“

Als der Kellner zwei Fisherking-Biere bringt, sagt sie: „Spiritus sollte man nicht aus Rücksicht auf die Gefühle des Kellners trinken. Sondern lieber etwas, das Leib und Seele zusammen hält: Mer muss sich och jet jünne könne.“
Und mit diesen Worten stoßen wir an. Zwar nicht wie echte Ladys, weil die vielleicht auch das Wein-Desaster mit Würde genommen hätten. Dafür aber mit dem guten Geschmack nach Bier auf der Zunge, Chérie.

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* Nachtrag vom 01.02.2024:

Diese Zeilen zur Um- und (im Fall von Puducherry) Rückbenennung kommen mir heute nicht nur zu flapsig vor, ich finde sie ignorant. Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Ich hätte damals mindestens erwähnen können, dass in der lokalen Sprache Tamil „Puducherry“ (புதுச்சேரி) „neues Dorf“ bedeutet. Ich hätte mich besser über die Auswirkungen des Kolonialismus informieren können, die Puducherry ab 1673 erlitt: Dann nämlich, als die Französische Ostindienkompanie dem Sultan von Bijapur das Städchen am Meer abkaufte. Ein ganzer Ort – nun einfach im Besitz von Kaufleuten! Wirtschaftsinteressen und Fremdherrschaft, die das Schicksal der Menschen dort bestimmen. Habe ich nicht geschrieben – ich war bedauerlicherweise zu sehr mit den unmittelbaren Eindrücken der Reise beschäftigt, also mit mir selbst.

In den letzten Jahren habe ich vieles nachgeholt und mir Gedanken gemacht. Und mich viel mit Fragen der Wirkung von Sprache beschäftigt, mit Rassismen in der Sprache, mit Gendergerechtigkeit und anderem. Ich habe selbst wahrgenommen, wie gut eine gerechtere und achtsame Sprache tut. Und wie verletztend und einschränkend verächtliche Kommentare und Fremdbezeichnungen sein können. Umso wichtiger finde ich heute, die Rückbenennung von Pondicherry in Puducherry ernst zu nehmen. Diese als verwirrend abzutun – damit habe ich es mir zu leicht gemacht.

Die Kolonialzeit prägt nicht nur das äußere Erscheinungsbild von Puducherry bis heute. Der Kolonialismus hat weltweit Wunden hinterlassen, vielerorts instabile Regierungen, wirtschaftliche Schwäche und andauernde Konflikte (wie etwa zwischen Indien und Pakistan) ausgelöst. Gerade Weiße Menschen, die in Europa geboren wurden und deswegen durch die Auswirkungen des Kolonialismus bis heute in vielerlei Weise privilegiert sind, sollten diesem Umstand mehr Aufmerksamkeit schenken, ihm mit mehr Demut und Anstand begegnen. Doch wir haben durch unsere Sozialisation, unser Umfeld häufig einen eingebauten Sehfehler: Wir sehen unsere Privilegien nicht.

Was wir in Puducherry zumeist auf den ersten Blick schön finden (vermutlich auch, weil es uns vertraut vorkommt), sind eigentlich Narben, die kaum verheilt sind. Die Gebäude, die wir im Vorübergehen bewundern, wurden von reichen Weißen Menschen gebaut und bewohnt, die Land und Leute geringschätzten, sie als Wirtschaftsgut betrachteten und ausbeuteten. Wie anders sähe eine Stadt wie Puducherry heute aus, hätte sich die Kolonialzeit nicht dort abgespielt, die Franzosen sich nicht daran bereichert? (Ich verwende hier nur den männlichen Begriff, denn all dies spielt sich unter einem französischen König, französischen Handelsherren und, was Puducherry angeht, insbesondere unter dem französischen Generalgouverneur François Martin ab.)

Das Nichtwissen oder auch: touristische Nichtwissenwollen und Abschütteln, die Ignoranz, die ich in meinem Text heute wahrnehme, macht mich demütig, sie beschämt mich beim Lesen. Ich hätte das in meiner Geschichte beheben können, hätte so tun können, als hätte ich es nie geschrieben. Aber wir alle können lernen. Und um das zu zeigen, lasse ich den Text oben so stehen und schreibe lieber meine heutigen Gedanken als solche auf.

Danke fürs Lesen! Anne

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Tierisch früh unterwegs

„Et es, wie et es“, sagt Petra und gähnt.
Ein schwacher Trost. Et es nämlich kurz vor fünf.

Aus einem mir in diesem Moment nicht nachvollziehbaren Grund habe ich sie am vorherigen Abend überredet, dass wir auf dem Weg nach Pondicherry den Vogelpark Vedanthangal besuchen. Und wer Vögeln beim Aufstehen zuschauen will, muss halt früh aus den Federn.

In der Dunkelheit vor Tagesanbruch sind nur mildes Knattern von Motoren und einzelne zaghafte Huptöne zu hören. Mamallapuram schläft noch.

Unser Fahrer hievt die Rucksäcke in den Kofferraum.
„Learning“, sagt er und deutet auf einen jungen Mann, der auf den Treppenstufen neben dem Eingang zum Guest House wartet. „Can drive in car together?“
Petra runzelt die Stirn und lässt die Worte in ihr morgendliches Bewusstsein tropfen.
„What?“, fragt sie ihn. Dann dreht sie sich zu mir herum: „Was will er denn nur?“
Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung, vielleicht möchte er seinen Freund mitnehmen?“
„No“, sagt Petra entschieden. „He cannot go with us to Vedanthangal.“
„But he leaner“, sagt der Fahrer. „Driving. Come in car.“
„Na, das klingt mir ja etwas undurchsichtig. Das hätte er uns wirklich gestern Abend fragen müssen“, meint sie. „Und überhaupt: Der Reiseführer warnt Frauen davor, dass der Fahrer plötzlich einen zweiten Mann mitnimmt. Vor allem bei Dunkelheit.“
Bestimmt hat sie recht, aber meine Schwelle für Gefahrenwahrnehmung ist wegen der Müdigkeit herabgesetzt. Ich finde, er sieht ungefährlich aus. Jedenfalls, wenn meine Lider mal einen Moment oben bleiben.

„Warum wollte ich da noch mal unbedingt hin?“, frage ich Petra, als wir etwa fünfhundert Meter über die holprige Straße gefahren sind.
„Du wolltest unbedingt Vögel sehen“, sagt Petra. „Und jetzt haben wir den Salat. Der Fahrer entführt uns allein – und wenn er gar nicht vorhatte, uns zu entführen, dann ist er jetzt bestimmt sauer.“
In diesem Moment dreht der Mann sich um.
„Coffee?“, fragt er und lächelt freundlich. Wenn der uns entführen wollte, fresse ich einen Besen. Aber sauer scheint er auch nicht zu sein.
„Drinkste ene mit?“, will Petra wissen, und ich nicke.
Wir halten an und steigen aus. Verrückt, dass hier schon Leute wach sind, aber Frauen streuen mit Reismehl Kolams auf die Straße, und mit dem Rieseln des weißen, roten, blauen, pinken Pulvers entstehen kunstvolle Mandalas oder eben: Vögel. In einer per Neonröhre beleuchteten Bretterbude steht ein Mann, der Kaffee feilbietet. Neben ihm sind Gläser mit Keksen aufgebaut, über ihm hängen Töpfe und allerlei Kräuter.

Der Mann hat ein ziemlich rundes Bäuchlein, aber er bewegt sich grazil wie ein Tänzer. Mit der rechten Hand greift er nach dem Pöttchen, in dem das Wasser auf der Gasflamme brodelt, und streut mit der linken Pulver in drei kleine Gläser. Das Wasser verteilt er über die Gläser, dann nimmt er ein Blechtöpfchen und gießt die dunkle Flüssigkeit so lange geschickt zwischen Glas und Töpfchen hin und her, bis das Gebräu die richtige Temperatur hat. Formvollendet reicht er jedem von uns ein Glas, und es ist genau richtig und schmeckt köstlich. Gerade, weil es so früh ist.

Gestärkt steigen wir ins Auto und diskutieren nun angeregt darüber, ob wir den Jungen hätten mitnehmen sollen, kommen aber zu keinem Schluss: Et es eben, wie et es. Und das scheint auch der Fahrer zu denken, denn er fährt ruhig lächelnd durch die Restnacht.

Eine Stunde später erreichen wir über einen holprigen Feldweg Vedanthangal Bird Sanctuary. Es wird bereits hell. Moskitos stürzen sich auf uns, als wir aus dem Wagen steigen. Das Zwitschern von Vögeln ist zu hören. Dahinein mischt sich das stetige Rauschen der nicht unweit gelegenen Fernstraße.

Neben dem Ticket Office haben einige Verkäufer ihre Waren aufgebaut, grüne Kokosnüsse und Plastikspielzeug – außerdem ist dort ein kleiner Raum, in dem beleuchtete Bilder der gefiederten Freunde hängen, die wir in dem etwa 30 Hektar großen Naturschutzgebiet erspähen können. Unter den Exoten ist auch die so genannte Rock Pidgeon zu finden, die unserer Stadttaube mit den zwei dunkelgrauen Flügelbinden zum Verwechseln ähnlich sieht.

Durch ein kleines Tor gelangen wir in den Park. Ein gepflasterter Weg markiert die Aussichtsstrecke. Von einem kleinen Turm aus haben wir einen fantastischen Blick über das Gebiet, in der Ferne erblicken wir weiße Kraniche. Und dann ist etwas zu hören, das klingt wie der Ruf einer Ringeltaube.

Die Sonne bricht durch die Wolken und färbt den Himmel rosa, majestätisch ziehen einige Schlangenvögel über den See und lassen sich nieder. Aber so nah wie wir gehofft hatten, kommt keiner, und ein Fernglas haben wir nicht mit.

Als wir vom Turm herabsteigen, kommen uns auf dem gepflasterten Weg einige Affen entgegen. Wir bleiben wie angewurzelt stehen und beobachten sie. Einer davon folgt einem andern.
„Guck mal, die wollen …“… spielen, will ich gerade sagen, als der größere Affe den kleineren besteigt.
Wir knipsen die beiden beim Sex, aber das Männchen mag wohl keine Paparazzi. Es fletscht die Zähne und greift uns an. Wir nehmen die Kamera und die Beine in die Hand und rennen Richtung Ausgang.
„Vögel sieht man hier nicht aus der Nähe“, stellt Petra fest, als wir wieder im sicheren Auto sitzen. „Dafür aber Affen, die vögeln.“

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