Maggelei of the Tiger

„I want to help you, my friend“, sagt der Mann, der sich am Busbahnhof in Kumily an unsere Fersen geheftet hat. Er drängt uns in eine Ecke, greift schon nach Petras Rucksack. „My name is Zamir“, sagt er. „I want to help you.“ Er ist ein wenig kleiner als ich und hat eine drahtige Figur, seine kurzen dunklen Haare sind teilweise von einer Kappe bedeckt.

Es ist dunkel. Es ist spät. Wir haben gerade die Busfahrt aus der Hölle hinter uns, an Steilhängen vorbei und mit riskanten Überholmanövern in der Kurve. Morgen soll alles besser werden. Morgen wollen wir in den Nationalpark. Dort gibt es eine gute Chance, wilde Elefanten zu sehen.
„No“, sagt Petra, schüttelt den Kopf und zieht ihren Rucksack an sich, sieht an ihm vorbei. „We already have a hotel.“
Was ein bisschen geflunkert ist, denn wir haben uns zwar etwas herausgesucht, aber nicht reserviert. Der Name will mir partout nicht einfallen. Ich krame meinen Reiseführer heraus und blättere hektisch durch die Seiten.
„Where is it?“, will der Mann wissen.
Ich blättere weiter und atme dann auf. There is it nämlich. „Green View.“
„I take you there“, sagt Zamir. „It is my stay.“
Das ist ja ein Ding.
Was für ein Zufall!
„And is there still a room for us?“, will ich wissen.
Zamir nickt. „Come, come.“

Er führt uns zu einem Tuk-Tuk, in dem bereits ein Mann sitzt. „Please take a seat.
„We don’t go with two men“, sagt Petra entschieden und bleibt wie angewurzelt stehen.
Zamir spricht ein paar Worte mit dem anderen Fahrer, der darauf hin zur Seite rückt.
„You don’t trust me?“, fragt er, als er sich auf den Sitz schwingt. „You can trust me.“
Klar, denke ich. Warum sind wir auch immer so misstrauisch?

Auf der Fahrt erzählt uns Zamir von seiner Religion, wie wichtig es für ihn sei, vor höheren Mächten gut dazustehen. Dass das sein Leben verändere. Und dass es auch für das Leben nach dem Tod total wichtig sei.
Ich frage interessiert nach, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ein Glaube mein Leben verändern könnte. Würde ich mich dann auch anders verhalten – und wenn ja, wie? Erst zweifle ich, aber es hört sich plausibel an. Zamir hat offenbar hohe Ansprüche an sich und andere. Erstens sind wir bei ihm gut aufgehoben. Und zweitens kann sein Glaube vielleicht auch für mich irgendwann mal was verändern, wenn ich jetzt gut aufpasse.

Zamir hält vor einem hübschen Häuschen, in dessen Vorgarten einige Touris sitzen und Tee trinken.
„Let me see“, sagt er und ist schneller aus dem Tuk-Tuk, als wir gucken können.

Er geht mit forschem Schritt ins Haus, ein Wortwechsel, dann ist er wieder da. „My friend don’t have room“, meint er. „But he say next house, very nice, they have room.“
Na, wenn der Besitzer das empfiehlt, dann wird wohl alles mit rechten Dingen zugehen. Und Zamir ist ein ehrenwerter Mann.

Er fährt uns mit dem Tuk-Tuk ein wenig die Straße hinunter und hält vor einem anderen Haus. Nun, das Haus ist nicht so schön, und vor der Tür sitzt keiner, aber die Frau, die uns die Tür öffnet, ist freundlich. Und wir sind müde.
So müde, dass wir beinahe willenlos zuhören, was für Touren uns der ehrenwerte Zamir anbietet. Angeblich hätten wir zwei Tage im Vorhinein buchen müssen. Jetzt ist alles voll. Das, was wir wollen, die Borderhiking-Tour, können wir nun nicht mehr buchen, erklärt er uns, aber die Jeep-Safari wäre ohnehin viel besser für uns.
„But we don’t like to go by car“, sagt Petra. „We like to walk and borderhike.“
Ich nicke bekräftigend.
„Okay“, sagt Zamir, blättert durch die Kataloge. „But that is full.“ Er verzieht den Mund. „Jeep Safari is nice. Many animals. Go a longer way. And if you book tomorrow, maybe no place.“
Es ist spät. Wir sind müde. Wir nicken. Okay, bevor wir gar nicht in den Nationalpark kommen, nehmen wir doch lieber den Jeep.
Wir zahlen etwas an. Merkwürdigerweise hätte Zamir das gerne in Euro, warum nur?
Dann gehen wir aufs Zimmer. Im Bad wartet eine Kakerlake. Es ist kalt. Wir verkriechen uns unters Moskitonetz und schlafen sofort ein.

Am nächsten Morgen ist es immer noch kalt. Ich habe ein ungutes Gefühl, dass wir viel zu viel Geld angezahlt haben.
„Komm“, sagt Petra, weil unsere Wirtin kein Frühstück anbietet. „Wir gehen zum Green View. Vielleicht bekommen wir da etwas zu essen.“ Im Guide stand, dass der Gastgeber leckeres Frühstück im Angebot hat.

Suresh, der Besitzer des Green View, ist ein kleiner, rundlicher Mann mit einem Lächeln, das das gesamte Gesicht erleuchtet. „Good morning! What can I do for you?“
Wir bekommen Frühstück und erfahren so nebenbei, dass er doch noch Zimmer frei hat.
Komisch, aber Zamir hatte doch gestern nachgefragt?
Suresh bewegt den Kopf leicht und sieht uns ernst an.
„Well, yes, I know him“, sagt er nur über Zamir.
Wir erzählen von unserem gestrigen Abend, der raschen Buchung, und versuchen, in ihn zu dringen, aber er lässt sich zu keinem bösen Wort hinreißen.
„Look“, sagt Suresh nur, „the borderhiking tour is much nicer. The Jeep Safari is not even in the National Park. They take you to the border of Tamil Nadu, it’s a long ride, and you don’t see anything.“
Suresh ruft für uns im Nationalpark an. Dann reicht er uns eine offizielle Broschüre.
„The borderhiking is still free. Tell Zamir you went to the official place and they told you and ask him to please change. Don’t tell them I told you. Tell him to help you. It will all turn out good.“
Das versprechen wir. Na, hoffentlich geht das wirklich alles gut aus.

Nach dem Frühstück sehen wir uns sein Hostel an.
Das Green View hat einen wunderbar gestalteten Garten mit einem hohen Baum, in dem ein paar Affen herumturnen. Die Zimmer sind hell und freundlich, es gibt eine Terrasse, auf der eine junge Frau in der Hängematte liegt uns liest. Wir fühlen uns auf Anhieb wohl. Und sofort sind wir uns einig: Wir ziehen um.

Was unsere Wirtin gar nicht gut findet, als wir es ihr verklickern.
Jeder Versuch, ihr zu erklären, dass wir ohnehin vorher ins Green View wollten, ist vergebens.
„Zamir lied to us“, sage ich. „It is not your fault. But we wanted to go to Green View before.“
„You go“, sagt sie schließlich und macht eine wegwerfende Handbewegung.
Wir greifen uns unsere Sachen, sagen der Kakerlake adieu und beziehen im Green View ein helles, schönes, warmes Zimmer mit Balkon.

Dann machen wir uns auf die Suche nach Zamir. Der Tuk-Tuk-Fahrer, der vor unserem Haus wartet, ist zufällig der Junge, den er gestern aus dem Taxi gekickt hat. Wir bitten ihn, uns zu Zamir zu bringen.
Auf dem Weg überlege ich fieberhaft, was ich zu ihm sagen kann. Mein Herz klopft.
Erst, als ich ihn am Straßenrand sehe, weiß ich es.
Ich atme tief ein. It will all turn out good, sagt Suresh in meinem Kopf, und ich glaube daran.
„Zamir, my friend!“, rufe ich lauter als normal. „Sooooo good to see you!“ Ich setze noch ein breiteres Lächeln auf.
Zamir reicht mir die Hand und lächelt ebenfalls.
„Look“, sage ich. „I have a big problem.“
I tell it like it is, baby. Da musst du jetzt durch, wenn ich dir mit der naiven Tour komme.
„What is it you want?“, fragt er.
Ich erkläre ihm, welche Tour wir buchen wollten, welche wir immer noch buchen wollen und dass er uns helfen muss, die zu bekommen, weil der Nationalpark sagt, es gebe doch noch Plätze.
Er guckt sparsam und will gerade ansetzen, als ich erneut Suresh in meinem Kopf höre: Tell him to help you.
„I know you want to help us“, sage ich. „You are an honorable man. I was very impressed by what you said about your religion. That you have such high standards and that you want to do the right thing always. And I trust you.“
Zamir sieht mich lange an. Man kann ihm geradezu beim Denken zusehen.
„But I have booked the trip already“, sagt er schließlich. „They keep ten percent of the price.“
Ich rechne nach, das sind ungefähr zwanzig Euro. Er zählt mir den Rest in die Hand.
„Okay, no problem.“ Ich staune – er hat sich tatsächlich darauf eingelassen.
Schließlich verabschieden wir uns. Ich bin erleichtert. Petra klopft mir im Tuk-Tuk auf die Schulter.
„Das hast du super gemacht“, meint sie. „Ich freue mich schon aufs Borderhiking morgen.“

Während wir noch im Tuk-Tuk sitzen, klingelt das Handy des Fahrers. Er geht dran, wechselt ein paar Worte und reicht es mir dann.
Es ist Zamir.
„What is your last name?“, will er wissen. „I need it for the booking.“
Ich sage es ihm. Als ich auflege, fällt der Groschen. Wenn er jetzt zum Buchen meinen Namen braucht, heißt es, dass er den Trip zuvor noch gar nicht gebucht haben kann. Ergo: Er hat die zehn Prozent einfach so eingestrichen.
Ich bitte den Fahrer, Zamir erneut anzurufen.
„Sorry“, sage ich. „I am a little stupid sometimes. You need my name for the booking?“
„Yes.“
„But why“, frage ich und muss lächeln. „Why did you not need it before? I mean, I believe you and your religion forbids you to cheat. But if did you not book the trip beforehand – why do we have to pay you ten percent?“
„That was not for me …“ Seine Stimme wird undeutlich. „It was for the tourist office. But let me see …“
„My friend, that is so nice of you. You are very helpful.“ Ich lasse ein Strahlen in meiner Stimme aufscheinen. „Will we see you tomorrow and you give me the money?“
Er macht ein unwirsches Geräusch. „Okay“, sagt er dann. „I will come by your hotel in the morning.“

Und das macht er dann auch, während wir auf den Spuren des Tigers durch den Periyar Nationalpark borderhiken und dort unversehens auf ein paar Elefanten stoßen, die einen Baum entblättern.

Als Suresh uns abends die Scheine in die Hand drückt, die Zamir dagelassen hat, sagt er: „It all turns out good.“
Und hat damit den ersten Artikel formvollendet wieder gegeben: „Et hät noch evver jot jejange.“
Wer braucht schon Religion, wenn er das Kölsche Grundgesetz hat?

PS: Namen und Orte wurden geringfügig geändert, um niemanden zu verletzen – nur das Green View nicht, ein bezaubernder Ort mit ausgesprochen netten Gastgebern!

Beitragsbild_Suresh

Komm nach Kumily!

Als die letzten kühlen Drinks aus diesem Fenster an der Bushaltestelle gereicht wurden,
war diese junge Frau noch nicht geboren.
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Schulkinder sind gehalten, bei nahenden Bussen die Beine in die Hand zu nehmen.
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Schön, dachte sich Petra, kurz vor dem Tod noch einmal der Kraft der Natur ins pralle Auge zu sehen.
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Die Teeplantagen bewegen sich so schnell, dass man sie kaum aufs Bild gebannt kriegt.
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Petra denkt spontan darüber nach, eine Ananasdiät zu beginnen.
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Eine schöne Frau entstellt nichts.
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Im Dschungel wird Anne oft für eine Holländerin gehalten.
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Welches Tier siehst du?
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Der Vergleich mit Petras Schuh zeigt: Dieser Elefant müsste mindestens Schuhgröße 57 haben.
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Petra mit Blutegelbeinschützern auf der Sperre, die das Dorf vor Rüsselträgern schützt.
Noch Fragen?
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Kaffee gefällig? Draußen nur Böhnchen.
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Wir wissen nicht, wie es euch geht, aber wir haben bei diesem Anblick schmutzige Gedanken.
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12 Uhr mittags. Petra nimmt die Fährte des Tigers auf.
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4000 Kalorien später.
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Das Leben kann so schön sein.
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Hätte Anne geahnt, dass die Spinne nach dem Mittagsschläfchen besonders angriffslustig ist, wäre sie für dieses Foto nicht bis auf zehn Zentimeter herangerückt.
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Die Kuh, auf der wir hergeritten sind, hat es nicht mehr lange gemacht.
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Hätte Anne geahnt, dass die Schlange nach dem Nickerchen besonders angriffslustig ist, wäre sie für dieses Foto nicht bis auf zehn Zentimeter herangerückt.
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Das Leben kann so schön sein, Teil 2.
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Wer hat den längsten?
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Besuch.
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Waschtag.
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Eine der begehrtesten Wohnlagen in Kumily ist rund um den Busbahnhof.
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Die drei von der Haltestelle.
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Man sieht es nicht, aber der Papierkorb steht direkt neben der Fotografin.
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Kumily für Dekoqueens: So machen Sie Ihre Sonnenterrasse frühjahrsfrisch.
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Ab sofort lässt Anne wirklich alles auf der Straße machen.
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Wer Kokosnuss auf indische Weise reibt, hat das Gefühl, auf einem fliegenden Teppich zu sitzen.
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Durch Showkochen ist Anne leicht zu beeindrucken.
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Diese zwei Frauen leiden gern unter Magenerweiterung: Zwei Mal die Bauarbeiter-Portion, bitte.
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Anne isst nicht nur gerne.
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Fahr oder stirb

„Kann es sein, dass unser Busfahrer ein Raser ist?“, ruft Anne, während sie in der Kurve an die Fensterseite geschleudert wird.
Mich drückt die Fliehkraft an ihre linke Schulter. „Ja, für die 110 Rupien kriegen wir auf dieser Rennpiste wirklich einiges geboten!“
Von Kottayam nach Kumily sollte es gehen, aber ob wir dort in einem Stück ankommen, bezweifle ich. „Diese Schütteltour müssen wir noch über vier Stunden aushalten!“

In der nächsten Kurve rutsche ich fast von meinem Platz.
Anne runzelt die Stirn. „Das ist doch noch gar nix. Vor der Fahrt durchs Gebirge habe ich Angst.“
Sie setzt sich auf und deutet mit dem Kopf auf den akkurat in Khaki-Uniform gekleideten Fahrer, direkt vor uns. Sicher und fest thront er auf seinem Sitz und düst schnittig durch die Kurven von Kottayam.
„Der scheint es drauf angelegt zu haben, hier ein Rennen zu gewinnen.“
Wahrscheinlich hat Anne recht, denn unterstützt durch ständiges Hupen überholt er selbstbewusst jeden anderen Verkehrsteilnehmer vor uns und lässt dabei das Lenkrad geschmeidig durch die Finger gleiten. Ab und an hüpft sein Oberlippenbart nach oben, denn er schwatzt und lacht mit den Fahrgästen neben ihm.

„Jetzt weiß ich, das ist Racing Joe!“, ruft Anne nach einem besonders waghalsigen Überholmanöver. „Der verdient damit sein Geld.“
Ich muss lachen. Der Name gefällt mir.
Meine Freundin krallt sich mit der rechten Hand an den türkisfarbenen Gittern der offenen Fenster fest, um nicht mit dem Kopf dagegen zu schlagen. Dabei reißt sie sich an einem offen stehenden Nagel den Handrücken auf. Es blutet.
Ich hole sofort ein Pflaster aus meinem Rucksack und verarzte die Wunde.
„Mann“, stöhnt sie, „eine kaputte Hand kann ich ebenso wenig gebrauchen wie eine Gehirnerschütterung.“
Na klar. Je lädierter wir in den West-Ghats ankommen, umso unwahrscheinlicher wird die geplante Trecking Tour durch den Periyar Nationalpark.
Rums!
Anne knallt wieder mit der rechten Schulter gegen das Fenstergitter und ohne dass ich es verhindern kann, drücke ich sie noch ein bisschen stärker dagegen.
„Autsch!“

Eine halbe Stunde später sind wir in den gefürchteten Bergen.
Racing Joe legt sich in die Serpentinen wie ein Rennfahrer auf der Piste. Unerschrocken schneidet er die Kurven und zieht auf der schmalen Fahrspur sogar an LKWs und Bussen vorbei.
Verkehrsschilder mit Totenköpfen drauf warnen vor unachtsamem Fahren. Der weiße Mittelstreifen bedeutet auch in Indien Überholverbot.
„Go slow!“ oder „Dangerous zone“ steht auf den Achtungsschildern. Die Geschwindigkeitsgrenze sind 30 Stundenkilometer. Das alles scheint unseren Busfahrer nicht zu interessieren.
Vor uns kommt ein Laster zum Stehen.
Racing Joe macht eine Vollbremsung.
„Ahhh!“, schreie ich.
Racing Joe blickt sich zu mir um, wackelt mit dem Kopf und gibt wieder Gas.
Anne lacht bei diesem Anblick schrill. Ihr Blick hat etwas Irres.
Mir ist übel vor Angst.
„Et kütt, wie et kütt“, verkündet meine Freundin und lacht wieder ganz komisch.
„Also Tod oder Leben?!“, antworte ich erschreckt.
Racing Joe hupt erneut und zieht mit Vollgas in die nächste Kurve.

Annes Lachen verebbt. Sie verzieht das Gesicht und kramt ein Schächtelchen mit Ohrenstöpseln aus ihrer Tasche.
„Ich kann dieses Gehupe nicht mehr ertragen“, sagt sie und bietet mir auch ein paar an.
„Was hatte ich für ein schönes Leben!“, antworte ich. „Danke allen, die mich geliebt haben! Aber meine letzten Lebensminuten will ich mit allen Sinnen erleben.“
Und so lehne ich Annes Angebot dankend ab.
„Ich sehe schon die Headline in den deutschen Medien vor mir“, rufe ich in ihre Richtung: „Indischer Bus in den West-Ghats verunglückt. Auch Deutsche unter den Opfern …“
„Ich hör nix!“, schreit Anne.
„Willst du auch noch meine Schlafbrille?“ brülle ich ihr ins Ohr.
Aber das Hupen übertönt alles, und Anne schließt die Augen auch so.

Na, super. In existenziellen Augenblicken seines Lebens ist der Mensch immer allein.
Ich blicke unserem Fahrer über die Schulter und habe durch die Frontscheibe beste Aussichten auf das schwarze Auto, das sich laut hupend an uns vorbeidrängt. Das kann Racing Joe nicht zulassen und veranstaltet ein Wettrennen. Ein Bus kommt uns entgegen.
Voller Entsetzen starre ich auf die Szene.
Wir rauschen um Haaresbreite an ihm vorbei.
Ich sehe mich um, die Insassen lächeln entspannt. Einige winken.

Racing Joe schwatzt gerade mit einem kleinen Dicken in gestreiftem Hemd und dunkler Hose und einem langen Dünnen, der lässig auf dem Motorkasten neben ihm herum lümmelt. Beide tragen den in Kerala obligatorischen Schnäuzer.
Der Dünne hat das landestypische, karierte Tuch um seine Beine zum Mini geschlungen und trägt dazu ein leuchtend gelbes Hemd, an dem die Bügelfalten noch etwas abstehen. Er lässt einen Spruch nach dem anderen ab. Racing Joe ergänzt. Dann der Dicke. Der Lacher sitzt.

Vielleicht ein Comedytrio, das seinen Auftritt probt?
Vielleicht sind wir im Film?
Dann wäre alles nur eine Show? Anne und ich wären Bollywood-Komparsen und die ganze Fahrt hier hätte Netz und doppelten Boden? Verstünden wir Hindu, könnten wir über die Witze vielleicht auch lachen.

Nein. Ich möchte, dass Racing Joe seine Aufmerksamkeit nach vorn richtet und es mit dem Berg etwas ruhiger angeht.
Macht er aber nicht. Er redet und lacht und hupt und überholt.
„Do laachs de disch kapott!“, sagt das 11.Kölsche Grundgesetz und meint, dass mit Humor alles leichter geht. Was denn leichter? Unser Sturz in die Schluchten dieser wunderbar grün üppigen Dschungellandschaft?
Ich blicke mich um. Viele Fahrgäste schlafen bereits.
Anne summt ein Lied.

Vor uns baumelt Gott Shiva von der Busdecke. Jemand hat ihn mit einer Blumenkette geschmückt. Ob die Götter uns helfen und diese Fahrt gut ausgehen lassen?
Wums!
Ich lande auf Annes Schoß.
Sie nimmt einen Stöpsel aus ihrem Ohr. „Ich will aussteigen“, sagt sie entschieden. „Wir müssen irgendwie anders weiterkommen.“

Klar, man kann ja sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Sei offen für Neues, Petra! „Et blievt nix, wie et wor“, rät doch das fünfte Kölsche Grundgesetz.
Nimm deinen Rucksack und steig aus!
Doch ehe wir in der Lage sind, uns an der nächsten Haltestelle zu erheben, sitzt plötzlich eine rundliche Inderin neben uns.
So eingequetscht können Anne und ich nicht nach links und nicht nach rechts fallen.
Die Frau lächelt uns freundlich zu und packt ihren Reiseproviant aus: Kekse, Nüsse, Honig-Erdnuss-Stangen, Mandarinen, Papadams… alles wird schwesterlich mit uns geteilt. Ich bedanke mich jedes Mal überschwänglich und futtere all diese Köstlichkeiten in mich hinein.
Anne kriegt nichts runter vor Angst.

Schade, dass unsere Nachbarin an der nächsten Haltestelle aussteigt. Ich bin vom Essen paralysiert und unfähig, mich ebenfalls zu erheben, Anne hält die Augen wieder geschlossen. Lange winkt uns die Frau nach.
Sofort werden unsere Plätze wieder zu Schleudersitzen.

In irgendeinem Bergnest hält der Bus wieder.
„Wir wollten doch raus!“, schreie ich.
Anne reißt die Augen auf und nickt.
Abrupt stehen wir auf, schnappen unsere Rucksäcke und verlassen den Bus.
Racing Joe guckt verwirrt. „No Kumily“, ruft er. „No Kumily!“

Und nun?
Anne geht an einem Straßenbüdchen Kuchen kaufen. Ich hole Tee.
Wir sind immer noch gut zwei Fahrtstunden von unserem Ziel entfernt. Ein großer VIP-Bus hält neben uns.
„Komm, den nehmen wir!“, rufe ich Anne zu und sie rafft ihre Sachen zusammen.

Nicht jeder Busfahrer ist schließlich Racing Joe. Denken wir.
Stimmt auch. Dieser will Flying Joe sein.
Vor seinem Abflug hat er Musik aufgelegt. Indische Hits. Die haben wir schon öfter gehört. Die Sängerin trällert mit Mickymausstimme zu leiernden Gitarrentönen.
Ich bin im Wahn und singe mit, bis Anne mich bittet, aufzuhören – sie erträgt die Doppelbelastung nicht länger.
So düsen wir durch das Gebirge: Links neben uns die Felsen, rechts die Schluchten. Dazwischen Überholmanöver. Wir mittendrin. Und um uns eine traumhaft schöne Landschaft.
Zu schummeriger Stunde erreichen wir das Städtchen Kumily.
Wir steigen aus und sind sehr blass um die Nasen. Und wissen nun, dass ein Kölsches Gesetz tatsächlich stimmt:

Et hätt noch immer jot jejange!

Busfoto 1023v2