Kochi, Kunst und Kohle

Kochi, die zweitgrößte Stadt in Kerala, hat mit Köln nicht nur den Anfangsbuchstaben gemein, sondern auch die „Schälsick“ … Also, Halbinseln, genauer gesagt. Hier trennt allerdings nicht ein Fluss die Stadtteile, sondern das Arabische Meer. Kochi vorgelagert sind einige Inseln.

Wir kommen auf dem Festland in einem Stadtteil namens Ernakulam an, fahren mit dem Bus auf großen Straßen an Gewerbegebieten und hässlichen Häuserkomplexen vorbei. In diesem Viertel haben Anne und ich einen Termin in der Reiseagentur, bei der wir nach viel Hin und Her eine Schiffsreise zu den benachbarten Lakkadiven reserviert haben. Jetzt wollen wir buchen.
„Ich freu mich so auf die Fische“, sagt Anne. „Und wenn es mit der Tauchbasis klappt, dann mache ich dort meinen Advanced Open Water Diver!“

Eine enge Außentreppe führt in das Büro, das den Look einer Garage besitzt. Von den niedrigen Decken hängen Leuchtstoffröhren und ein paar staubige Girlanden, die an das noch nicht lange vergangene Weihnachtsfest erinnern. Es fällt mir schwer, mir hier festive Stimmung vorzustellen. Ein Dutzend Mitarbeiter blicken angestrengt auf ihre Monitore und klappern brav in ihre Tasten.

Unsere zuständige Beraterin zählt die Eckdaten zu unserem geplanten einwöchigen Ausflug auf die Insel Kadmat auf: Doppelzimmer, Verpflegung inklusive, Anreise per Schiff, Geld sollten wir vorher abheben, da es auf der Insel keine Möglichkeit gibt …
„Es gibt keinen Geldautomaten auf der Insel?“, unterbricht Anne sie auf Englisch und hat sofort eine steile Problemfalte auf der Stirn. „Wie soll ich denn dann die Tauchbasis bezahlen?“
„Only cash“, betont die Mitarbeiterin. „But no problem, you can get money from the machine here.” Sie zeigt auf die andere Straßenseite.
„No, it‘s not possible!” Ich berichte von unseren gescheiterten Versuchen in den letzten zwei Wochen, Geld abzuheben. Meine Maestro-Karte macht es schon seit Varkala nicht mehr und mit ihrer kann Anne rund 80 Euro ziehen. Mehr bekommt man nur mit der Kreditkarte – und unsere haben in Indien noch bei keinem Automaten funktioniert.
Die Dame bleibt gelassen. „You have a credit card?”
„Yes. But it doesn‘t work …”
„No problem.“ Sie lächelt und bittet mich, ihr meine Karte zu zeigen. Nach einem kurzen Blick schiebt sie das Plastikgeld in ihr portables Bezahlgerät und gibt den Reisepreis für unseren Inseltrip ein. Das Gerät druckt knatternd einen Bon aus. Strahlend wackelt sie mit dem Kopf. „It works!“
Zumindest die Reise nach Kadmat ist gebongt.
Aber woher soll Bares fließen fürs Tauchen und Schnorcheln, dem eigentlichen Grund unseres Ausflugs?

Wir begeben uns auf die andere Straßenseite und versuchen es mit unseren Geldkarten der Reihe nach an jedem der vielen Automaten und in den Bankfilialen, die es in dieser nicht enden wollenden Geschäftsstraße gibt. Vergeblich. Selbst die Kreditkarte, mit der ich eben noch im Reisebüro gebucht habe, versagt konsequent ihren Dienst. Auch Anne kann nicht eine Rupie abheben.
„Wat soll dä Kwatsch?“, sage ich.
„Wat wells de maache?“, antwortet Anne. „Shit – trotz aller Gelassenheit im Kölschen Grundgesetz finde ich es wirklich doof, dass ich auf eine Trauminsel fahre und dort kein Geld zum Tauchen habe.“
Ich verziehe das Gesicht beim Anblick in mein Portemonnaie.
„Haha. Da laachs de disch kapott!“, sage ich und kann die Bitterkeit in meiner Stimme nicht verbergen. „Unsere Grundgesetze helfen jetzt auch nicht weiter. Wir brauchen Kohle!“
„Die treffen doch gerade sehr zu.“ Anne grinst. „Et es wie et es.“
„Ich hab Durst“, maule ich. “Ein Kaffee oder Tee wäre zur Abwechslung nicht schlecht. Drinks de ejne met?“
Wir bestellen am nächsten Büdchen heißen Chai.

Über eine lange Brücke lassen wir uns dann mit dem Tuk-Tuk auf die Halbinsel Fort Cochin bringen. Kleine Gassen, Häuser mit kolonialem Flair, Restaurants, sogar Cafés gibt es hier. Schnell hellt sich unsere Stimmung auf, wir suchen ein Zimmer und spazieren durch diesen zauberhaft schönen Ort zur Kaimauer mit den chinesischen Fischernetzen am Strand.
Es sind relativ viele Touristen unterwegs, denn zurzeit findet die Internationale Kunst-Biennale statt. Da müssen wir hin! Das Ticket kostet nur 150 Rupien. Keine Frage, da simmer dabei – und vergessen im Kunstrausch unsere Geldprobleme für einige Zeit.

Am Morgen holen sie uns wieder ein, denn schon am nächsten Tag soll die Reise losgehen, und so marschieren wir gleich nach dem Aufstehen zum nächsten Geldautomaten.
In der kleinen Kabine der Baroda-Bank schiebe ich meine Maestro-Karte in den Automaten. Sie funktioniert natürlich … nicht. Ich versuche es mit meiner Kreditkarte.
Ratter, ratter …
Schon erwarte ich, dass der Vorgang abgebrochen wird, aber … der Automat fragt mich plötzlich, wie viel Geld ich abheben will!
Meine Hände zittern vor Aufregung. Ich gebe die maximale Summe von umgerechnet zirka 80 Euro ein, die man mit der EC-Karte abheben kann. Es rattert und wenige Sekunden später, wir trauen unseren Augen kaum, spuckt das Gerät tatsächlich Geldscheine aus.
Wir jubeln. „Yeah, it works!“
Jetzt ist Anne an der Reihe. „Endlich – jetzt kann ich Tauchen gehen!“
Dann probieren wir es erneut, denn für so eine Inselwoche braucht man sicher etwas mehr Geld. Der Baroda-Bank-Automat gibt brav die Scheine aus.
Nun wieder Anne.
Dann ich.
Anne.
Ich.
Anne.
Ich.
Wir sind im Taumel. Im Geldrausch. Kriegen einen Lachanfall. Packen unsere Bauchtaschen und Geldbörsen voll mit dem schnöden Mammon.
„Nie wieder, nie wieder Geld-Automaten-Frust!“, rufe ich und wische mir die Lachtränen aus den Augen.
Anne holt die Clownsnase raus. „Tauchen kostet mehr als Schnorcheln“, sagt sie, zuckt mit den Schultern und macht weiter.

Danach gönnen wir uns am frühen Vormittag in einem Restaurant ein Bier – so was gibt es sonst auch nicht in Indien.
Ich muss immer noch lachen. „Wie kann es sein, dass es genau einen Tag vor dem Inseltrip klappt? Wir hatten doch die Hoffnung schon aufgegeben!“
Anne wischt sich den Bierschaum von den Lippen. „Et bliev nix wie et wor, will uns Indien sagen.“
Stimmt. Artikel 5 hatten wir ganz vergessen.
Ich will noch ein Bier bestellen.
Anne winkt ab. „Nee, lass mal: Maach et got, ävver nit zo off.“

Nun haben wir fast alle Kölschen Grundgesetze durch.
Kochi und Köln haben offenbar wirklich viel gemeinsam.

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Fahr oder stirb

„Kann es sein, dass unser Busfahrer ein Raser ist?“, ruft Anne, während sie in der Kurve an die Fensterseite geschleudert wird.
Mich drückt die Fliehkraft an ihre linke Schulter. „Ja, für die 110 Rupien kriegen wir auf dieser Rennpiste wirklich einiges geboten!“
Von Kottayam nach Kumily sollte es gehen, aber ob wir dort in einem Stück ankommen, bezweifle ich. „Diese Schütteltour müssen wir noch über vier Stunden aushalten!“

In der nächsten Kurve rutsche ich fast von meinem Platz.
Anne runzelt die Stirn. „Das ist doch noch gar nix. Vor der Fahrt durchs Gebirge habe ich Angst.“
Sie setzt sich auf und deutet mit dem Kopf auf den akkurat in Khaki-Uniform gekleideten Fahrer, direkt vor uns. Sicher und fest thront er auf seinem Sitz und düst schnittig durch die Kurven von Kottayam.
„Der scheint es drauf angelegt zu haben, hier ein Rennen zu gewinnen.“
Wahrscheinlich hat Anne recht, denn unterstützt durch ständiges Hupen überholt er selbstbewusst jeden anderen Verkehrsteilnehmer vor uns und lässt dabei das Lenkrad geschmeidig durch die Finger gleiten. Ab und an hüpft sein Oberlippenbart nach oben, denn er schwatzt und lacht mit den Fahrgästen neben ihm.

„Jetzt weiß ich, das ist Racing Joe!“, ruft Anne nach einem besonders waghalsigen Überholmanöver. „Der verdient damit sein Geld.“
Ich muss lachen. Der Name gefällt mir.
Meine Freundin krallt sich mit der rechten Hand an den türkisfarbenen Gittern der offenen Fenster fest, um nicht mit dem Kopf dagegen zu schlagen. Dabei reißt sie sich an einem offen stehenden Nagel den Handrücken auf. Es blutet.
Ich hole sofort ein Pflaster aus meinem Rucksack und verarzte die Wunde.
„Mann“, stöhnt sie, „eine kaputte Hand kann ich ebenso wenig gebrauchen wie eine Gehirnerschütterung.“
Na klar. Je lädierter wir in den West-Ghats ankommen, umso unwahrscheinlicher wird die geplante Trecking Tour durch den Periyar Nationalpark.
Rums!
Anne knallt wieder mit der rechten Schulter gegen das Fenstergitter und ohne dass ich es verhindern kann, drücke ich sie noch ein bisschen stärker dagegen.
„Autsch!“

Eine halbe Stunde später sind wir in den gefürchteten Bergen.
Racing Joe legt sich in die Serpentinen wie ein Rennfahrer auf der Piste. Unerschrocken schneidet er die Kurven und zieht auf der schmalen Fahrspur sogar an LKWs und Bussen vorbei.
Verkehrsschilder mit Totenköpfen drauf warnen vor unachtsamem Fahren. Der weiße Mittelstreifen bedeutet auch in Indien Überholverbot.
„Go slow!“ oder „Dangerous zone“ steht auf den Achtungsschildern. Die Geschwindigkeitsgrenze sind 30 Stundenkilometer. Das alles scheint unseren Busfahrer nicht zu interessieren.
Vor uns kommt ein Laster zum Stehen.
Racing Joe macht eine Vollbremsung.
„Ahhh!“, schreie ich.
Racing Joe blickt sich zu mir um, wackelt mit dem Kopf und gibt wieder Gas.
Anne lacht bei diesem Anblick schrill. Ihr Blick hat etwas Irres.
Mir ist übel vor Angst.
„Et kütt, wie et kütt“, verkündet meine Freundin und lacht wieder ganz komisch.
„Also Tod oder Leben?!“, antworte ich erschreckt.
Racing Joe hupt erneut und zieht mit Vollgas in die nächste Kurve.

Annes Lachen verebbt. Sie verzieht das Gesicht und kramt ein Schächtelchen mit Ohrenstöpseln aus ihrer Tasche.
„Ich kann dieses Gehupe nicht mehr ertragen“, sagt sie und bietet mir auch ein paar an.
„Was hatte ich für ein schönes Leben!“, antworte ich. „Danke allen, die mich geliebt haben! Aber meine letzten Lebensminuten will ich mit allen Sinnen erleben.“
Und so lehne ich Annes Angebot dankend ab.
„Ich sehe schon die Headline in den deutschen Medien vor mir“, rufe ich in ihre Richtung: „Indischer Bus in den West-Ghats verunglückt. Auch Deutsche unter den Opfern …“
„Ich hör nix!“, schreit Anne.
„Willst du auch noch meine Schlafbrille?“ brülle ich ihr ins Ohr.
Aber das Hupen übertönt alles, und Anne schließt die Augen auch so.

Na, super. In existenziellen Augenblicken seines Lebens ist der Mensch immer allein.
Ich blicke unserem Fahrer über die Schulter und habe durch die Frontscheibe beste Aussichten auf das schwarze Auto, das sich laut hupend an uns vorbeidrängt. Das kann Racing Joe nicht zulassen und veranstaltet ein Wettrennen. Ein Bus kommt uns entgegen.
Voller Entsetzen starre ich auf die Szene.
Wir rauschen um Haaresbreite an ihm vorbei.
Ich sehe mich um, die Insassen lächeln entspannt. Einige winken.

Racing Joe schwatzt gerade mit einem kleinen Dicken in gestreiftem Hemd und dunkler Hose und einem langen Dünnen, der lässig auf dem Motorkasten neben ihm herum lümmelt. Beide tragen den in Kerala obligatorischen Schnäuzer.
Der Dünne hat das landestypische, karierte Tuch um seine Beine zum Mini geschlungen und trägt dazu ein leuchtend gelbes Hemd, an dem die Bügelfalten noch etwas abstehen. Er lässt einen Spruch nach dem anderen ab. Racing Joe ergänzt. Dann der Dicke. Der Lacher sitzt.

Vielleicht ein Comedytrio, das seinen Auftritt probt?
Vielleicht sind wir im Film?
Dann wäre alles nur eine Show? Anne und ich wären Bollywood-Komparsen und die ganze Fahrt hier hätte Netz und doppelten Boden? Verstünden wir Hindu, könnten wir über die Witze vielleicht auch lachen.

Nein. Ich möchte, dass Racing Joe seine Aufmerksamkeit nach vorn richtet und es mit dem Berg etwas ruhiger angeht.
Macht er aber nicht. Er redet und lacht und hupt und überholt.
„Do laachs de disch kapott!“, sagt das 11.Kölsche Grundgesetz und meint, dass mit Humor alles leichter geht. Was denn leichter? Unser Sturz in die Schluchten dieser wunderbar grün üppigen Dschungellandschaft?
Ich blicke mich um. Viele Fahrgäste schlafen bereits.
Anne summt ein Lied.

Vor uns baumelt Gott Shiva von der Busdecke. Jemand hat ihn mit einer Blumenkette geschmückt. Ob die Götter uns helfen und diese Fahrt gut ausgehen lassen?
Wums!
Ich lande auf Annes Schoß.
Sie nimmt einen Stöpsel aus ihrem Ohr. „Ich will aussteigen“, sagt sie entschieden. „Wir müssen irgendwie anders weiterkommen.“

Klar, man kann ja sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Sei offen für Neues, Petra! „Et blievt nix, wie et wor“, rät doch das fünfte Kölsche Grundgesetz.
Nimm deinen Rucksack und steig aus!
Doch ehe wir in der Lage sind, uns an der nächsten Haltestelle zu erheben, sitzt plötzlich eine rundliche Inderin neben uns.
So eingequetscht können Anne und ich nicht nach links und nicht nach rechts fallen.
Die Frau lächelt uns freundlich zu und packt ihren Reiseproviant aus: Kekse, Nüsse, Honig-Erdnuss-Stangen, Mandarinen, Papadams… alles wird schwesterlich mit uns geteilt. Ich bedanke mich jedes Mal überschwänglich und futtere all diese Köstlichkeiten in mich hinein.
Anne kriegt nichts runter vor Angst.

Schade, dass unsere Nachbarin an der nächsten Haltestelle aussteigt. Ich bin vom Essen paralysiert und unfähig, mich ebenfalls zu erheben, Anne hält die Augen wieder geschlossen. Lange winkt uns die Frau nach.
Sofort werden unsere Plätze wieder zu Schleudersitzen.

In irgendeinem Bergnest hält der Bus wieder.
„Wir wollten doch raus!“, schreie ich.
Anne reißt die Augen auf und nickt.
Abrupt stehen wir auf, schnappen unsere Rucksäcke und verlassen den Bus.
Racing Joe guckt verwirrt. „No Kumily“, ruft er. „No Kumily!“

Und nun?
Anne geht an einem Straßenbüdchen Kuchen kaufen. Ich hole Tee.
Wir sind immer noch gut zwei Fahrtstunden von unserem Ziel entfernt. Ein großer VIP-Bus hält neben uns.
„Komm, den nehmen wir!“, rufe ich Anne zu und sie rafft ihre Sachen zusammen.

Nicht jeder Busfahrer ist schließlich Racing Joe. Denken wir.
Stimmt auch. Dieser will Flying Joe sein.
Vor seinem Abflug hat er Musik aufgelegt. Indische Hits. Die haben wir schon öfter gehört. Die Sängerin trällert mit Mickymausstimme zu leiernden Gitarrentönen.
Ich bin im Wahn und singe mit, bis Anne mich bittet, aufzuhören – sie erträgt die Doppelbelastung nicht länger.
So düsen wir durch das Gebirge: Links neben uns die Felsen, rechts die Schluchten. Dazwischen Überholmanöver. Wir mittendrin. Und um uns eine traumhaft schöne Landschaft.
Zu schummeriger Stunde erreichen wir das Städtchen Kumily.
Wir steigen aus und sind sehr blass um die Nasen. Und wissen nun, dass ein Kölsches Gesetz tatsächlich stimmt:

Et hätt noch immer jot jejange!

Busfoto 1023v2

D‘ r Zoch kütt

Anne, Christopher und ich sitzen noch gemütlich in Madurai bei einem Tässchen „Black coffee. No milk! No sugar!“. Wir plaudern über unsere geplante Weiterreise morgen nach Kerala. Dieses Mal nicht mit dem Bus, sondern mit der Bahn.
„Soll man ja nicht versäumen, in Indien Bahn zu fahren“, sage ich.
„Stimmt“, antwortet Christopher, „authentischer reisen geht nicht. Habt ihr schon ein Ticket?“
Anne und ich schütteln den Kopf.
„Oh!“ Der Kanadier blickt skeptisch. „Könnte knapp werden.“
„Warum denn?“
„Bahntickets sind oft Wochen vorher ausgebucht“, erklärt er. „Inder reisen halt gern.“
Er bietet an, uns zum Ticketkauf zu begleiten. Es soll nämlich nicht ganz einfach sein.

Links vor dem Bahnhofsgebäude zeigt er auf eine ziemliche Bruchbude, zu der eine provisorische Eisentreppe hochführt.
„Und da gibt’sTickets?“, fragt Anne skeptisch.
Christopher nickt und grinst.
Aha. Wir gehen hinauf und treten ein.

Es gibt zwei Schalter und einen separaten Raum, der eine eigene Tür hat.
„Was für eine Bretterbude!“, entfährt es mir, während ich mich umschaue. „Ein bisschen wie ein Baustellen-Häuschen.“
Dem einzigen Regal an der Wand entnimmt Christopher zwei Formulare, dann erklärt er uns, welche Felder wir wie ausfüllen müssen.
„Just do what they say“, empfiehlt er uns, dann verabschiedet sich zur Verabredung mit Freunden.
Formulare ausfüllen haben wir in Indien bereits gelernt, und so legen wir los. Name und Geburtsdatum, Pass- und Visa-Nummer. Alter, Sitzplatzwunsch, Zugnummer. Damit stellen wir uns an einem der Schalter an.

Der Mitarbeiter schaut kurz auf unseren Zettel und winkt uns in Richtung seines Nachbarn.
„Tourist?“, fragt ein Mann mit Schnäuzer und Segelohren.
Als wir nicken, erklärt er, dass wir erst nebenan in diesem abgetrennten Zimmer vorstellig werden sollen.
„Aber wir wollen nur eine Fahrkarte kaufen“, sagt Anne.
„No problem“, bestätigt er kopfschüttelnd.

Eine füllige Inderin im rot-gelben Sari empfängt uns im Separee. Ihre rot geschminkten Lippen glänzen unter dem Neonröhrenlicht.
Wir erklären wieder unser Reise-Vorhaben.
„Madurai – Varkala, two tickets, please“, sage ich.
Plötzlich flitzt etwas Schwarzes an mir vorbei und verschwindet im nächsten Loch.
Ich schreie laut auf.
Die Frau zuckt zusammen, der Mann mit dem Schnäuzer stürzt herein.
„What is happen?“, fragt er.
„A rat!!!“, schreie ich.
Die beiden atmen erleichtert auf.
„That only Simisi!“, sagt die Frau und lacht.
„Äh, what…?“
„Simisi, friend.“
Okay. Dass die Inder manchmal schräg drauf sind, habe ich schon gemerkt. Dass sie sogar Ratten im Büro zu Freunden machen, ist mir neu.
Anne lacht ebenfalls. Ich scheine also mit meiner Angst vor Nagern allein zu sein.
Ab jetzt werde ich die Dielenlöcher nicht mehr aus den Augen lassen!

Wir zeigen unsere Pässe, damit unsere Angaben mit dem Formular verglichen werden können.
Das dauert.
„Copy, copy!“, ordert die Frau. „Copy!“
„But why?“ Diese Frage habe ich mir in Indien schon oft gestellt.
„We need copy“, erklärt sie. „Then look for berths.“
Offenbar haben sie keinen Kopierer im Büro oder Simisi hat das Kabel angenagt.
Der Kollege erklärt uns den Weg zum Kopierbüro.

Das Schild mit der Aufschrift Xerox am Straßenrand führt uns schließlich in eine dunkle, zwielichtige Gasse.
Hinter einer schmalen Ladentheke steht in dem von Neonlicht erleuchteten Räumchen ein junges Mädchen. Sie fertigt für 8 Rupien Kopien von unseren Pässen und Visa an.
Damit gehen wir zurück zu Simisi und der Frau mit den roten Lippen.
Die schickt uns nun jedoch erst zum Schalter, Tickets kaufen.

„Häh?“ Anne blickt mich verständnislos an.
„Das heißt: But why?“, korrigiere ich sie milde. „Und diese Frage wird in Indien nicht beantwortet.“
„Ja, aber das hätten wir doch vorhin schon machen können“, sagt sie dessen ungeachtet.
„Nicht fragen, machen!“ Ich gehe hinüber an einen der Schalter und lege das Geld auf die Theke.

Mit den just erworbenen Fahrscheinen werden wir wieder im Simisi-Büro vorstellig.
Die Frau schaut in ihren Computer, hängt sich kurz ans Telefon – und druckt – endlich! – Reservierungen für zwei Schlafplätze aus.
Yeah! Ich schaue auf die Uhr. Hat gerade mal zwei Stunden gedauert.
„Sleeper class“, lese ich laut.
Der Schalterbeamte mit den Segelohren steht schon wieder neben uns, legt Daumen- und Zeigefinger zueinander an die Lippen. Dann schmatzt er drei Genuss-Küsse in die Luft: „Hmüp, hmüp, hmüp!“
Ich muss lachen und mache es nach. „Hmüp, hmüp, hmüp?“
Er nickt. „Sleeper-Class good!“
Simisi wechselt ungerührt das Loch; Anne verstaut die Karten sorgfältig im Rucksack.

Nach dieser komplizierten und aufwendigen Prozedur verstehen wir auch, warum nicht sehr viele Touristen per Bahn unterwegs sind. Das müssen sie auch nicht, denn Indiens 8.000 Züge auf den über 66.000 km langen Strecken sind sowieso immer voll. Etwa elf Millionen Menschen bewegen sich täglich durch ihr schönes großes Land. Die Tickets sind für jeden erschwinglich und die 1,6 Millionen Bahnangestellten tun sicher alles dafür – verzichten sogar auf Kopierer! -, ihren Job beim größten Arbeitgeber der Welt zu behalten.

Am nächsten Abend machen wir uns mit den schweren Rucksäcken auf den Weg zum Bahnhof.
Bereits auf dem Vorplatz ist richtig was los.
„Gibt’s hier ein Festival?“, fragt Anne.
Das sieht wahrlich fast aus wie bei der Fusion oder anderen Musik Open-Air-Veranstaltungen, die mehrere Tage dauern. Dort richten sich die jungen Besucher campingmäßig ein:
Auch auf diesem Bahnhof lungern Hunderte Menschen auf dem staubigen Fußboden herum. Manche liegen auf ihren Decken, andere lehnen an dicken Koffern, Taschen und überquellenden Säcken, gefüllt mit Lebensmitteln oder Stoffen. Die nächsten schwatzen laut miteinander, Kinder spielen Fangen, Hunde und Krähen streunen herum auf der Suche nach Eßbarem, Bettler bitten um eine Gabe. Abfälle liegen überall bunt verstreut. Dazu kommt das laute Getöse der Hauptstraße, wo Autos, Mopeds und Busse ihre Abgase und Dreck in die schwüle Luft mischen.
Die meisten Reisenden haben sich auf lange Wartezeiten eingerichtet.

Direkt vor dem Bahnhofseingang öffnet eine Frau eine ihrer vielen Tüten und verteilt auf abgerissenen Zeitungsblättern Samosas, Reis und gebackene Bananen an ihre Lieben.
An der Bahnhofsfront läuft ein Video. Ein Bollywood-Film?
Ich bleibe, wie so viele, stehen und gucke hoch.
„Wir müssen erst einmal herausfinden, auf welchem Bahnsteig unser Zug abfährt“, sagt Anne, gebeugt unter ihrem Rucksack.
Bei unserem gestrigen Ticketkauf wurde uns erklärt, dass unsere Namen mit Hunderten Mitreisenden dieses Zuges auf irgendwelchen Monitoren erscheinen. Auf welchem Gleis der Zug abfährt, konnten uns die zwei aus dem Simisi-Büro nicht sagen.
Im Bahnhofgebäude sieht es ähnlich aus wie draußen, nur dass die Luft hier noch stickiger ist. Und das, obwohl die Ventilatoren überall auf vollen Touren laufen.
Ich stelle mich an der Information an.
„Plattform four“, raunt der Mann am Schalter durch die Öffnung in der schmierigen Scheibe.

Wir schlängeln uns an den Schlafenden und Wartenden vorbei, suchen unser Gleis.
Dort angekommen, fragen wir drei Mal nach, ob auch andere hier auf den Zug nach Kerala warten.
Nachfragen ist in Indien eine wichtige Maßnahme: Oft erhält man sehr unterschiedliche, sogar gegensätzliche Informationen.
Aber in diesem Falle scheint alles zu stimmen. Ein junges, sehr hübsches Mädchen, bestätigt unsere Frage sehr entschieden. Auf Englisch bietet sie sogar an, den richtigen Waggon zu finden, nachdem sie kurz auf unsere Tickets geschaut hat.
„Sleeper Class!“, betone ich und werfe die drei schmatzenden Hmüp-Küsse in die Luft.
Sie hebt die Augenbrauen und wackelt mit dem Kopf.

Mit nur einer Stunde Verspätung fährt der Zug von Madurai nach Kochi mit Halt in Varkala ein: eine Vielzahl von im Schein der schummrigen Neonröhren auf dem Gleis türkisfarben leuchtenden Abteilen mit vergitterten Fenstern.
Die junge Frau deutet auf den richtigen Waggon, und wir steigen ein.

Schnell finden wir unsere Plätze: zwei übereinander liegende Pritschen in einem ansonst offenen Abteil. Die obere Liege wird mit großen Haken an schweren Eisenketten befestigt. Gegenüber dieselbe Konstruktion. Ich ziehe und zerre an der oberen Pritsche.
„Na, da wird wohl nix passieren“, sage ich und bereite unten mein Schlafquartier für heute Nacht vor, während Anne es sich über mir bequem macht.
In Minutenschnelle sind alle Plätze belegt.
Männer, Frauen und Kinder packen ihre Bündel auf die Pritschen, verstauen laut lamentierend ihre Koffer und Taschen unter den Sitzen.
Zu uns dringt ein strenger Geruch nach Urin.
„Sind wir etwa direkt neben der Toilette?“, fragt Anne.
Wir schauen beide in Richtung der zwei Gänge, und ich begebe mich auf Erkundungsgang.
„Zum Klo musst du noch an mindestens fünf offenen Abteilen vorbei“, erkläre ich ihr wenig später.
„Wahrer Geruch kennt eben keine Grenzen“, meint sie.

Dann rauscht der Zug auch schon los. Durch die offenen Gitter an den Fenstern weht frische Luft durch die Gänge.
Es ist weit nach Mitternacht, und allmählich wird es ruhig um uns herum.
Alle versuchen, eine Position zu finden, mit der es sich auf diesen harten Pritschen schlafen lässt. Wat wells de maache? (Artikel 7 des Kölschen Grundgesetzes: Füge dich in dein Schicksal)
Mir gegenüber legen sich zwei Frauen so, dass sie gemeinsam auf einer Liege Platz finden und sich ein kleiner Junge sogar noch zwischen sie kuscheln kann. Er verschwindet zwischen den zwei Saris der Frauen. Ein Mann, wahrscheinlich der Vater, macht es sich derweil auf der oberen Pritsche mit dem älteren Sohn bequem.
Auf den Liegen im Gang wird gefurzt, gehustet und geschnarcht.
Anne und ich müssen kichern, sie steckt den Kopf über den Rand ihrer Schlafkoje.
„Sleeperclass ist … ?!“, flüstere ich ihr zu.
Anne antwortet prompt mit dem dreifachen Schmatzer: „Hmüp, hmüp, hmüp!“
Erst Stunden später, als ich durch den eiskalten Fahrtwind der nicht richtig zu schließenden Fenster geweckt werde, erklärt sich mir diese Liebeserklärung: Neben uns im Gang stehen Menschen über Menschen. Sie haben keinen Sitz- und schon gar keinen Schlafplatz.
Mit unseren Plätzen haben wir wirklich Glück, denn der Zug ist inzwischen rappelvoll.
Er hält an vielen Stationen. Manche steigen aus, manche ein.
Indien pur.

Es wird Morgen.
Wir klappen unsere Pritschen hoch, so dass auch andere Reisende Platz finden. An Schlafen ist sowieso nicht mehr zu denken.
Ich bin durchgefroren. Anne hat Rückenschmerzen.

Die angekündigte Ankunftszeit ist weit überschritten.
Welche Station Varkala sein mag, erfahren wir nach vielem Nachfragen.
Mit drei Stunden Verspätung stolpern wir übermüdet auf den kleinen Bahnhof.

Ein Tuk-Tuk-Fahrer bringt uns an die Strandklippen.
Restaurants, Cafés und Verkaufsstände reihen sich aneinander.
Wir lassen unsere Rucksäcke am Coffee Temple fallen, einem gemütlichen Café. Der grandiose Blick übers Meer entlohnt uns für die Strapazen der Fahrt.
Eine junge blonde Deutsche mit Hipster-Haarknoten und lässigem Outfit fragt, welchen Capucchino wir denn wollen. Mit Zimt oder Vanille, mit Sojamilch vielleicht?
Größer könnte der Unterschied nicht sein. Das Touristen-Indien hat begonnen.

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