„Unser Tuk-Tuk-Fahrer Ranesh hat was von einem Baum“, flüstere ich Anne zu, während ich die aufrechte Sitzhaltung bestaune, mit der er uns durch die engen Straßenkurven von Pondicherry chauffiert. „Als machte ihm der ganze Verkehrsstress nichts aus.“
„Findest du Tuk-Tuk-Fahren stressig? Mich entspannt das“, entgegnet sie und bindet sich ihr Tuch lässig um den Kopf, als Schutz gegen den Fahrtwind.
Wir sind auf dem Weg nach Auroville, der Modellstadt für die „guten Menschen“, die sich nur einer einzigen Sache verpflichtet fühlen, nämlich der höchsten Wahrheit, wie Gründerin Mira Alfassa 1968 betonte. Welcher Wahrheit? Wer legt denn zum Beispiel fest, ob Stadtfahrten in Wahrheit stressig sind oder entspannend?
Auf der Homepage der Aurovillaner habe ich gelesen, dass ihre Anhänger einem göttlichen Bewusstsein dienen und einer Zukunft entgegen gehen, „wo aus dem Mensch ein Supermensch wird, der sich selbst übertrifft und durch ein wahrhaft vom Göttlichen geprägtes Wesen abgelöst wird“. Treffen wir dort also Superman und Superwoman? Oder auf ein neues DDR-Modell? Die wollten doch damals auch eine bessere Gesellschaft mit besseren Menschen und ohne den schnöden Mammon Geld und Besitz glücklich sein und schrieben sich „Frieden, Freundschaft, Solidarität“ – so der Schlachtruf der FDJ – auf die Fahnen. Leider scheiterte diese hehre kommunistische Idee an der Realität – und an den Menschen. Und das nicht nur in der DDR. Aber gut, das soll ja in Auroville alles ganz anders sein.
Ranesh hält auf einem großen Parkplatz für Busse und Tuk Tuks und weist auf einen schmalen Pfad. Hier geht’s also zum Garten Eden, in dem 2.250 Menschen aus 48 Nationen auf höheren Bewusstseinsebenen unterwegs sind.
Im Visitor’s Centre empfängt uns ein lächelnder Engländer und händigt uns den Passierschein für einen kleinen Rundgang aus.
„Ich wollte doch ins goldene Matrimandir, das aussieht wie eine Riesenrochérkugel!“ moniere ich.
Dafür, so erklärt er uns, benötigen wir eine Voranmeldung, und deutet mit einem entschiedenen Lächeln auf das Gebäude gegenüber.
Dass man für alles eine Genehmigung braucht, kommt mir bekannt vor.
„Wat soll dä Quatsch?“, flüstere ich Anne zu.
Sie zuckt mit den Schultern und geht los.
„Das Matrimandir ist für uns etwas sehr Besonderes. Täglich kommen tausende Besucher, und die Plätze im Inner Chamber sind halt begrenzt“, erklärt eine Frau, auf deren Namensschild Tina steht. „Deswegen muss man eine Reservierung machen. Wenn ihr einmal dagewesen seid, könnt ihr aber immer wieder kommen.“ Sie lächelt entrückt.
Tina ist in meinem Alter und trägt die Haare genauso wie ich damals in den Achtzigern als Ausdruck meiner oppositionellen Haltung zum sozialistischen Einheits-Gedöns: Eine Seite kurz, die andere lang, schräg angeschnitten.
Ob Tina gleich nach der Maueröffnung „nübber“ ist?, schießt es mir durch den Kopf. Von einer idealistischen Idee zur nächsten?
„Nun hol schon deinen Pass raus“, unterbricht Anne meine kruden Gedanken. „Wir wollen doch noch den Rundgang machen.“
Sie hat Recht. Ich blicke auf meine Uhr, eine Stunde ist mit dem ganzen Tamtam schon rum, und wir haben mit Ranesh ausgemacht, dass er zwei Stunden wartet. Wir eilen los.
„First Video!“, hält uns der Eintrittskartenkontrolleur zurück und schiebt uns in einen kleinen Raum, wo ein Film heroische Aufbaubilder Aurovilles mit Musikuntermalung zeigt. Es ist nicht mein erster Agit-Prop-Film; ich finde das eher lustig.
Anne verdreht die Augen. „Mich hätte eher interessiert, wie sie hier versuchen, Arobindos Ideale in die Tat umzusetzen“, sagt sie, „zum Beispiel ihre Schulprojekte und etwas über alternative Landwirtschaft und Energiegewinnung.“
Beim Rundgang leiten uns Männer, die wie Straßenpolizisten wirken – allerdings ohne Uniform – in vorgeschriebene Bahnen. Das ist total lieb, da können wir uns in diesem 50 Hektar großen Märchenland nicht verlaufen. Wie wär’s, wenn ihr dann noch eine Mauer drumherum zieht?
Schöne Blumenbilder auf Natursteinen verkünden Weisheiten der Aurovillaner von Gesundheit, Liebe und Gleichheit. Die Lilie steht zum Beispiel für den Frieden: „Feel the peace, know the peace, be the peace, the peace, the peace…“ Sie haben ja so recht.
Leider war es das für heute und so tuckern wir samt innerem Frieden und in dem von Raneshs sicher geführten Dreirad zurück in die laute, indische Wirklichkeit von Pondicherry.
Am nächsten Morgen um neun Uhr soll es dann die ultimative Auroville-Offenbarung geben.
Ranesh steht dafür um kurz nach acht wieder vor unserem Guest House.
„Einer der besten Fahrer“, lobt der Guest-House-Chef, und so versuche ich es heute auch mal mit Entspannung.
Vor dem Auroville-Center warten schon einige westliche Normalos und Hippies sowie ein paar Inder.
Bevor es losgeht, müssen uns einen weiteren Film ansehen. Dieser ist länger als der vom Vortag und erinnert mich irgendwie an „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“: Ein Pflichtstreifen, der im Staatsbürgerkundeunterricht vor dem FDJ-Eintritt geguckt werden musste, weil er vom wahren Heldentum nach DDR-Vorstellung erzählt.
Im Auroville-Film spricht die „Mutter“ salbungsvolle Worte über das Zusammenleben der Menschen, der gebrechliche Sri Aurobindo schwebt in Schwarzweiß-Bildern über die Leinwand und einige Bewohner erzählen über ihr Leben und tanzen ihren Namen.
Derart eingestimmt stellen wir uns in Zweierreihen vor einem kleinen Büroschreibtisch an der Gartenpforte an und marschieren zum Bus. Und links, zwo, drei und links, zwo, drei…
Ich würde am liebsten ein Lied anstimmen, aber Anne hält mich zurück.
Die Anmeldungen von gestern werden eingesammelt und jeder bekommt ein goldschimmerndes Kärtchen mit Verhaltensregeln in die Hand gedrückt: Nicht sprechen, nicht fotografieren, im Innern des Matrimandir zum Husten auf den Gang gehen und so weiter.
Ein älterer Australier weist uns an, nun in einen kleinen gelben Bus zu steigen. Dieser fährt uns zum Park, in dessen Mitte das Matrimandir steht.
Dort angekommen geht’s aber nicht gleich zur Kugel, sondern zur nächsten Einweisung, und zwar darüber, was es damit auf sich hat.
Wir dürfen Fragen stellen. Wofür denn die „petals“ da seien, die „Blütenblätter“, die wie riesige Rampen um die Kugel angelegt sind, fragt eine Besucherin aus Ungarn.
„Skateboarding“, ruft ein Ami mit lockigen Haaren und Surfer-Shirt dazwischen.
Anne und ich müssen lachen.
Der Australier schenkt ihm einen gütigen Seitenblick, dann erklärt er, dass sich darin Meditationskammern befinden.
Schließlich spaziert unsere Gruppe durch den Park, bis wir zu einem Banyan-Baum kommen. Dieser wurzelt seine riesigen Äste wieder und wieder in die Erde, so dass man darunter schön verweilen kann. Weil das so etwas Besonderes ist, wird er nochmal extra von einem Zaun geschützt. Wovor haben sie hier eigentlich Angst?
Unser Guide erklärt, was wir gleich im Innern der Kugel tun werden: Schuhe ausziehen, Rampe raufgehen, die ins Innere führt, weiße Socken anziehen, Wendelweg hinaufgehen, bis wir im Inner Chamber sind, dann auf eins der weißen Kissen setzen. Vor allem aber gilt es, Ruhe zu bewahren.
Anne fühlt sich bei all dem Weiß und der lila Beleuchtung in der Kugel an Space Odyssee 2001 erinnert.
„Ich glaube, HAL fängt gleich an zu sprechen“, flüstert sie.
Schließlich sind wir in der inneren Kammer angekommen. In der Mitte steht auf einem Sockel eine Kristallkugel. Diese ist eine Spende der ostdeutschen Firma Carl-Zeiss-Jena, die schon zu DDR-Zeiten für ihre tollen Exportideen bekannt war, weshalb für uns Ossis leider nicht viel übrig blieb.
Das Licht der Sonne bricht sich eindrucksvoll in diesem Kristall, und sein Strahl wird wiederum an eine andere Kugel unter dem Matrimandir weitergegeben. Das hat etwas Hypnotisches. 15 Minuten haben wir hier, wenn diese abgelaufen sind, geht das Licht zwei Mal an und wieder aus, und wir müssen wieder raus.
„Hat sich der ganze Heckmeck doch noch gelohnt“, sagt Anne beeindruckt, als wir wieder in Raneshs Vehikel sitzen und durch das quirlige Pondicherry tuckern.
„Stimmt“, bestärke ich, „was für ein großartiges architektonisches Kunstwerk. Aber was ist nun mit den besseren Menschen und dem besseren Leben?“
„Was weiß ich“, antwortet Anne. „Das wirkliche Leben findet wohl eher hier draußen statt.“
„Ja“, sage ich. „Vielleicht sollten wir das Kölsche Grundgesetz erweitern: Wat nützt dat Leven in Jedanken?“