Zusatzartikel: „Nit alles, wat en Loch hät, is kapott“

„Such du dir einen aus“, sage ich zu Petra, immer noch ein wenig müde vom guten Essen im Coffee Temple in Varkala.
Wir haben beschlossen, mit dem Taxi nach Kollam, dem früheren Quilon, zu fahren. Die Kerle mit den kleinen Wagen stehen erwartungsvoll in einer Reihe.
„Wann hat man das schon mal?“, meint Petra. „An Männern mangelt es hier ja nicht.“
Und das gilt nicht nur für Taxifahrer.
Viel mehr Männer als Frauen hängen auf der Straße ab.

Auch das beste Stück des Mannes ist überrepräsentiert. Viele der Tempel in Tamil Nadu sind dem Lingam von Shiva gewidmet. Es gibt Steinpenisse in allen Größen und für jeden Geschmack. Sogar der Lonely Planet verspritzt angesichts schöner Exemplare eine Ladung fast poetisch anmutender Worte: Der Strandtempel in Mamallapuram habe zwei Dächer, las ich dort, auf deren Spitzen Shivas Penisse prangen, und diese „original Lingams fangen den Sonnenaufgang und -untergang wunderbar ein.“ Wie soll denn in so einem Penis was untergehen? Dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist, wissen im Grunde auch die Hindus. Manchmal wird der Lingam daher mit Yoni drumherum dargestellt – dann baden die Priester und Gläubigen die Skulptur auch gern mal in flüssiger Butter. Im Sri-Menaakshi-Tempel in Madurai wurde allerdings jüngst der gute Brauch verboten, dass die Gläubigen mit Butterkugeln nach dem besten Stück warfen: wegen der Rutschgefahr.

Der Geschlechtsakt ist also in Indien von kulinarisch-spiritueller Bedeutung: Mit kopulierenden Penissen und Vaginas wird die sexuelle Energie angebetet, die zur Erleuchtung führen soll, so hat es mir Christopher erklärt. So schön das klingen mag, die Einheit von Männlichem und Weiblichem und Göttlichem – im indischen Alltag findet man sie nicht wieder.

Männer rufen uns hinterher, ziehen uns in Läden und schieben sich durch die öffentlichen Verkehrsmitteln. Viele sind freundlich, aber manche rotzen auf die Straße, sind laut und schubsen uns beiseite. Diese Männer behandeln uns wie lästige Fliegen. Wie wir in Varkala an der Shoppingmeile erfahren haben, können auch manche Frauen nervig sein – aber sie sind einfach in der Minderheit.

„Ich habe gelesen, wie gefährlich es hierzulande ist, eine Frau zu sein“, sage ich, als wir die Rucksäcke verladen haben und schließlich in den Wagen steigen. Dabei denke ich an Vergewaltigungen, Brautverbrennungen und Touristinnenmorde. „Ich bin schon froh, dass wir zu zweit unterwegs sind.“

Fast jeder, dem ich zuvor von unserer Reise erzählt hatte, fühlte sich befleißigt, die Ängste vor dem Subkontinent zu schüren.
„Oh Gott, Indien!“
„Passt auf, dass ihr nicht vergewaltigt werdet!“
„Warum fahrt ihr nicht nach Teneriffa?“
Die Sorge von Freunden und Bekannten hat sicher mit dem Fall des brutalen Gang Rape einer 23-jährigen Studentin in Delhi im Dezember 2012 zu tun, der durch alle Medien ging. Aber auch ohne Gewalt sieht’s duster aus fürs so genannte schöne Geschlecht. Zwar haben die Frauen in Tamil Nadu und auch in Kerala größere Freiheiten als im Rest des Landes, aber von Gleichberechtigung ist das weit entfernt. Jeden Tag ist auf Seite eins der englischsprachigen indischen Zeitungen von einer Vergewaltigung zu lesen. Zum ersten Mal bin ich froh, dass ich doppelt so groß wie die meisten Männer bin. Was sonst den Kreis möglicher Partner verkleinert, ist hier ein großes Geschenk.

„Ach komm, denk mal an die Chinesin Delia, die wir getroffen haben“, erinnert mich Petra. „Der ging’s doch gut.“
Und auch die Belgierin im letzten Home Stay, denke ich. Aber Belgierinnen und Chinesinnen sind auch aus ganz anderem Holz geschnitzt. Die haut so leicht nichts um.

Was, wenn die gleichen Regeln aus Indien in Deutschland gelten würden? Dann hätte mein Arbeitgeber in Köln mich vielleicht bei Dienstantritt auf meine Jungfräulichkeit hin untersucht – so wie indische Frauen dies vor dem Eintritt in den Polizeidienst über sich ergehen lassen müssen. Oder ich hätte zwar studieren können, wäre aber bei Heirat natürlich ins Heim und an den Herd berufen worden. Nur 10 Prozent der Parlamentarier in Indien sind Frauen. Da ist doch mal eine Quote fällig.

„What’s your good name?“, fragt unser Fahrer.
Als er mir über die Lehne hinweg nach hinten die Hand reicht, ergreife ich sie. Davor warnt der Reiseführer, das weiß ich, aber manchmal mache ich es aus Reflex doch.
Habe ich mich geirrt, oder hat er gerade mit dem Daumen über meine Handinnenfläche gerieben?
Ach komm, das wird schon nichts bedeuten, denke ich mir. Das habe ich mir bestimmt eingebildet.

Nach einiger fruchtloser Plauderei, die an seinem schlechten Englisch scheitert, bei der wir aber erfahren, dass er ledig ist, setzt er uns vor dem Hotel in Quilon ab.
Der Hof vor dem Hotel ist triste, im Rinnstein liegen alte Plastiktüten und Orangenschalen.
Petra geht schon mal vor, um die Unterlagen auszufüllen, ich bleibe mit dem Fahrer zurück, um mich um die Bezahlung zu kümmern.
Ich drücke dem Fahrer einige Scheine in die Hand. Er ergreift meine Rechte, tätschelt mit der Linken zuerst freundlich meine Schulter, so als wollte er mich an sich ziehen. Mit einer aalglatten Bewegung fährt er mir dann plötzlich mit der Linken über meine Brust, ohne meine Hand loszulassen. Mitten auf der Straße, am helllichten Tag. Vor einigen Tagen habe ich Petra erklärt, da solle nur mal einer versuchen, mich anzutatschen. Und jetzt? Stehe ich da wie vom Donner gerührt. Meine linke Gehirnhälfte möchte ihm gerne eine knallen, meine rechte verharrt in der Schockstarre, während ich ihn seelenruhig in sein Taxi steigen und davonfahren sehe.

Petra, die aus dem Hoteleingang kommt, will gut gelaunt ihren Rucksack ergreifen. Sie sieht mich an. „Was ist denn?“
„Der Typ eben …“, sage ich und erzähle ihr von dem unerfreulichen Erlebnis. „Das gibt’s doch nicht!“
„Ab jetzt nur noch Namaste mit zusammengelegten Händen“, sagt sie pragmatisch. „Und Abstand halten.“
Weil die Stadt Kollam recht unansehnlich ist und das Erlebnis noch nachwirkt, reden wir an diesem Tag lange darüber, wie sehr Indien in Hinblick auf Frauenrechte ein echtes Entwicklungsland ist. Vieles hier ist wunderbar, wir haben zauberhafte Menschen getroffen – männlichen und weiblichen Geschlechts -, aber eben auch viel Unrecht und Ungleichheit gesehen. Und heute bin ich wie schon oft froh und dankbar, in einem fortschrittlicheren Teil der Welt zu leben. In Köln.

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Wein, Weib, Varkala

Unser Zug sticht aus den Fortbewegungsmitteln Indiens sofort heraus. Er ist genauso bequem und sauber wie er rosa ist und von einem Einhorn gezogen wird.
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Selbst durch den roten Nasenfilter kann dieses Reisegruppenmitglied die Zugtoilette riechen.
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Diese Menschen wissen, wo sie einsteigen.
Wir wüssten gerne, wo wir aussteigen.
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In Varkala angekommen überlegen wir sofort ein Remake von „The Fog – Nebel des Grauens“ zu drehen. Dann fallen uns nach der langen Zugfahrt die Augen zu.
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Strandbesucher nehmen sich bei der Ankunft ein Wattebäuschchen, um sich den Schweiß abzutupfen.
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Petra hat sich für das günstige Shopping an der Promenade extra einen großen Rucksack mitgebracht.
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Unser Hotel liegt in praktischer Nähe zum Friedhof.
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Auch hier liegt das Vogelreservat direkt neben der Müllkippe.
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Während die anderen Tauben im Sand umhertollten, hatte Winfried immer ein Auge auf ihre Badelatschen.
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Manche Menschen machen wirklich alles, nur damit man am Strand nicht ihre Cellulite sieht.
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Beste Freundinnen stellen sich den Fluten gemeinsam.
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Von Tamila aus Trichy wissen wir: Das Paar am rechten Bildrand ist bereits mehr als drei Monate verheiratet.
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Bei diesem Anblick ist Anne erleichtert, dass man ihr noch nichts aus den Rippen geschnitten hat.
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Petra nannte ihn sofort Lucky. Anne fiel es schwerer, Freundschaft zu schließen.
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D‘ r Zoch kütt

Anne, Christopher und ich sitzen noch gemütlich in Madurai bei einem Tässchen „Black coffee. No milk! No sugar!“. Wir plaudern über unsere geplante Weiterreise morgen nach Kerala. Dieses Mal nicht mit dem Bus, sondern mit der Bahn.
„Soll man ja nicht versäumen, in Indien Bahn zu fahren“, sage ich.
„Stimmt“, antwortet Christopher, „authentischer reisen geht nicht. Habt ihr schon ein Ticket?“
Anne und ich schütteln den Kopf.
„Oh!“ Der Kanadier blickt skeptisch. „Könnte knapp werden.“
„Warum denn?“
„Bahntickets sind oft Wochen vorher ausgebucht“, erklärt er. „Inder reisen halt gern.“
Er bietet an, uns zum Ticketkauf zu begleiten. Es soll nämlich nicht ganz einfach sein.

Links vor dem Bahnhofsgebäude zeigt er auf eine ziemliche Bruchbude, zu der eine provisorische Eisentreppe hochführt.
„Und da gibt’sTickets?“, fragt Anne skeptisch.
Christopher nickt und grinst.
Aha. Wir gehen hinauf und treten ein.

Es gibt zwei Schalter und einen separaten Raum, der eine eigene Tür hat.
„Was für eine Bretterbude!“, entfährt es mir, während ich mich umschaue. „Ein bisschen wie ein Baustellen-Häuschen.“
Dem einzigen Regal an der Wand entnimmt Christopher zwei Formulare, dann erklärt er uns, welche Felder wir wie ausfüllen müssen.
„Just do what they say“, empfiehlt er uns, dann verabschiedet sich zur Verabredung mit Freunden.
Formulare ausfüllen haben wir in Indien bereits gelernt, und so legen wir los. Name und Geburtsdatum, Pass- und Visa-Nummer. Alter, Sitzplatzwunsch, Zugnummer. Damit stellen wir uns an einem der Schalter an.

Der Mitarbeiter schaut kurz auf unseren Zettel und winkt uns in Richtung seines Nachbarn.
„Tourist?“, fragt ein Mann mit Schnäuzer und Segelohren.
Als wir nicken, erklärt er, dass wir erst nebenan in diesem abgetrennten Zimmer vorstellig werden sollen.
„Aber wir wollen nur eine Fahrkarte kaufen“, sagt Anne.
„No problem“, bestätigt er kopfschüttelnd.

Eine füllige Inderin im rot-gelben Sari empfängt uns im Separee. Ihre rot geschminkten Lippen glänzen unter dem Neonröhrenlicht.
Wir erklären wieder unser Reise-Vorhaben.
„Madurai – Varkala, two tickets, please“, sage ich.
Plötzlich flitzt etwas Schwarzes an mir vorbei und verschwindet im nächsten Loch.
Ich schreie laut auf.
Die Frau zuckt zusammen, der Mann mit dem Schnäuzer stürzt herein.
„What is happen?“, fragt er.
„A rat!!!“, schreie ich.
Die beiden atmen erleichtert auf.
„That only Simisi!“, sagt die Frau und lacht.
„Äh, what…?“
„Simisi, friend.“
Okay. Dass die Inder manchmal schräg drauf sind, habe ich schon gemerkt. Dass sie sogar Ratten im Büro zu Freunden machen, ist mir neu.
Anne lacht ebenfalls. Ich scheine also mit meiner Angst vor Nagern allein zu sein.
Ab jetzt werde ich die Dielenlöcher nicht mehr aus den Augen lassen!

Wir zeigen unsere Pässe, damit unsere Angaben mit dem Formular verglichen werden können.
Das dauert.
„Copy, copy!“, ordert die Frau. „Copy!“
„But why?“ Diese Frage habe ich mir in Indien schon oft gestellt.
„We need copy“, erklärt sie. „Then look for berths.“
Offenbar haben sie keinen Kopierer im Büro oder Simisi hat das Kabel angenagt.
Der Kollege erklärt uns den Weg zum Kopierbüro.

Das Schild mit der Aufschrift Xerox am Straßenrand führt uns schließlich in eine dunkle, zwielichtige Gasse.
Hinter einer schmalen Ladentheke steht in dem von Neonlicht erleuchteten Räumchen ein junges Mädchen. Sie fertigt für 8 Rupien Kopien von unseren Pässen und Visa an.
Damit gehen wir zurück zu Simisi und der Frau mit den roten Lippen.
Die schickt uns nun jedoch erst zum Schalter, Tickets kaufen.

„Häh?“ Anne blickt mich verständnislos an.
„Das heißt: But why?“, korrigiere ich sie milde. „Und diese Frage wird in Indien nicht beantwortet.“
„Ja, aber das hätten wir doch vorhin schon machen können“, sagt sie dessen ungeachtet.
„Nicht fragen, machen!“ Ich gehe hinüber an einen der Schalter und lege das Geld auf die Theke.

Mit den just erworbenen Fahrscheinen werden wir wieder im Simisi-Büro vorstellig.
Die Frau schaut in ihren Computer, hängt sich kurz ans Telefon – und druckt – endlich! – Reservierungen für zwei Schlafplätze aus.
Yeah! Ich schaue auf die Uhr. Hat gerade mal zwei Stunden gedauert.
„Sleeper class“, lese ich laut.
Der Schalterbeamte mit den Segelohren steht schon wieder neben uns, legt Daumen- und Zeigefinger zueinander an die Lippen. Dann schmatzt er drei Genuss-Küsse in die Luft: „Hmüp, hmüp, hmüp!“
Ich muss lachen und mache es nach. „Hmüp, hmüp, hmüp?“
Er nickt. „Sleeper-Class good!“
Simisi wechselt ungerührt das Loch; Anne verstaut die Karten sorgfältig im Rucksack.

Nach dieser komplizierten und aufwendigen Prozedur verstehen wir auch, warum nicht sehr viele Touristen per Bahn unterwegs sind. Das müssen sie auch nicht, denn Indiens 8.000 Züge auf den über 66.000 km langen Strecken sind sowieso immer voll. Etwa elf Millionen Menschen bewegen sich täglich durch ihr schönes großes Land. Die Tickets sind für jeden erschwinglich und die 1,6 Millionen Bahnangestellten tun sicher alles dafür – verzichten sogar auf Kopierer! -, ihren Job beim größten Arbeitgeber der Welt zu behalten.

Am nächsten Abend machen wir uns mit den schweren Rucksäcken auf den Weg zum Bahnhof.
Bereits auf dem Vorplatz ist richtig was los.
„Gibt’s hier ein Festival?“, fragt Anne.
Das sieht wahrlich fast aus wie bei der Fusion oder anderen Musik Open-Air-Veranstaltungen, die mehrere Tage dauern. Dort richten sich die jungen Besucher campingmäßig ein:
Auch auf diesem Bahnhof lungern Hunderte Menschen auf dem staubigen Fußboden herum. Manche liegen auf ihren Decken, andere lehnen an dicken Koffern, Taschen und überquellenden Säcken, gefüllt mit Lebensmitteln oder Stoffen. Die nächsten schwatzen laut miteinander, Kinder spielen Fangen, Hunde und Krähen streunen herum auf der Suche nach Eßbarem, Bettler bitten um eine Gabe. Abfälle liegen überall bunt verstreut. Dazu kommt das laute Getöse der Hauptstraße, wo Autos, Mopeds und Busse ihre Abgase und Dreck in die schwüle Luft mischen.
Die meisten Reisenden haben sich auf lange Wartezeiten eingerichtet.

Direkt vor dem Bahnhofseingang öffnet eine Frau eine ihrer vielen Tüten und verteilt auf abgerissenen Zeitungsblättern Samosas, Reis und gebackene Bananen an ihre Lieben.
An der Bahnhofsfront läuft ein Video. Ein Bollywood-Film?
Ich bleibe, wie so viele, stehen und gucke hoch.
„Wir müssen erst einmal herausfinden, auf welchem Bahnsteig unser Zug abfährt“, sagt Anne, gebeugt unter ihrem Rucksack.
Bei unserem gestrigen Ticketkauf wurde uns erklärt, dass unsere Namen mit Hunderten Mitreisenden dieses Zuges auf irgendwelchen Monitoren erscheinen. Auf welchem Gleis der Zug abfährt, konnten uns die zwei aus dem Simisi-Büro nicht sagen.
Im Bahnhofgebäude sieht es ähnlich aus wie draußen, nur dass die Luft hier noch stickiger ist. Und das, obwohl die Ventilatoren überall auf vollen Touren laufen.
Ich stelle mich an der Information an.
„Plattform four“, raunt der Mann am Schalter durch die Öffnung in der schmierigen Scheibe.

Wir schlängeln uns an den Schlafenden und Wartenden vorbei, suchen unser Gleis.
Dort angekommen, fragen wir drei Mal nach, ob auch andere hier auf den Zug nach Kerala warten.
Nachfragen ist in Indien eine wichtige Maßnahme: Oft erhält man sehr unterschiedliche, sogar gegensätzliche Informationen.
Aber in diesem Falle scheint alles zu stimmen. Ein junges, sehr hübsches Mädchen, bestätigt unsere Frage sehr entschieden. Auf Englisch bietet sie sogar an, den richtigen Waggon zu finden, nachdem sie kurz auf unsere Tickets geschaut hat.
„Sleeper Class!“, betone ich und werfe die drei schmatzenden Hmüp-Küsse in die Luft.
Sie hebt die Augenbrauen und wackelt mit dem Kopf.

Mit nur einer Stunde Verspätung fährt der Zug von Madurai nach Kochi mit Halt in Varkala ein: eine Vielzahl von im Schein der schummrigen Neonröhren auf dem Gleis türkisfarben leuchtenden Abteilen mit vergitterten Fenstern.
Die junge Frau deutet auf den richtigen Waggon, und wir steigen ein.

Schnell finden wir unsere Plätze: zwei übereinander liegende Pritschen in einem ansonst offenen Abteil. Die obere Liege wird mit großen Haken an schweren Eisenketten befestigt. Gegenüber dieselbe Konstruktion. Ich ziehe und zerre an der oberen Pritsche.
„Na, da wird wohl nix passieren“, sage ich und bereite unten mein Schlafquartier für heute Nacht vor, während Anne es sich über mir bequem macht.
In Minutenschnelle sind alle Plätze belegt.
Männer, Frauen und Kinder packen ihre Bündel auf die Pritschen, verstauen laut lamentierend ihre Koffer und Taschen unter den Sitzen.
Zu uns dringt ein strenger Geruch nach Urin.
„Sind wir etwa direkt neben der Toilette?“, fragt Anne.
Wir schauen beide in Richtung der zwei Gänge, und ich begebe mich auf Erkundungsgang.
„Zum Klo musst du noch an mindestens fünf offenen Abteilen vorbei“, erkläre ich ihr wenig später.
„Wahrer Geruch kennt eben keine Grenzen“, meint sie.

Dann rauscht der Zug auch schon los. Durch die offenen Gitter an den Fenstern weht frische Luft durch die Gänge.
Es ist weit nach Mitternacht, und allmählich wird es ruhig um uns herum.
Alle versuchen, eine Position zu finden, mit der es sich auf diesen harten Pritschen schlafen lässt. Wat wells de maache? (Artikel 7 des Kölschen Grundgesetzes: Füge dich in dein Schicksal)
Mir gegenüber legen sich zwei Frauen so, dass sie gemeinsam auf einer Liege Platz finden und sich ein kleiner Junge sogar noch zwischen sie kuscheln kann. Er verschwindet zwischen den zwei Saris der Frauen. Ein Mann, wahrscheinlich der Vater, macht es sich derweil auf der oberen Pritsche mit dem älteren Sohn bequem.
Auf den Liegen im Gang wird gefurzt, gehustet und geschnarcht.
Anne und ich müssen kichern, sie steckt den Kopf über den Rand ihrer Schlafkoje.
„Sleeperclass ist … ?!“, flüstere ich ihr zu.
Anne antwortet prompt mit dem dreifachen Schmatzer: „Hmüp, hmüp, hmüp!“
Erst Stunden später, als ich durch den eiskalten Fahrtwind der nicht richtig zu schließenden Fenster geweckt werde, erklärt sich mir diese Liebeserklärung: Neben uns im Gang stehen Menschen über Menschen. Sie haben keinen Sitz- und schon gar keinen Schlafplatz.
Mit unseren Plätzen haben wir wirklich Glück, denn der Zug ist inzwischen rappelvoll.
Er hält an vielen Stationen. Manche steigen aus, manche ein.
Indien pur.

Es wird Morgen.
Wir klappen unsere Pritschen hoch, so dass auch andere Reisende Platz finden. An Schlafen ist sowieso nicht mehr zu denken.
Ich bin durchgefroren. Anne hat Rückenschmerzen.

Die angekündigte Ankunftszeit ist weit überschritten.
Welche Station Varkala sein mag, erfahren wir nach vielem Nachfragen.
Mit drei Stunden Verspätung stolpern wir übermüdet auf den kleinen Bahnhof.

Ein Tuk-Tuk-Fahrer bringt uns an die Strandklippen.
Restaurants, Cafés und Verkaufsstände reihen sich aneinander.
Wir lassen unsere Rucksäcke am Coffee Temple fallen, einem gemütlichen Café. Der grandiose Blick übers Meer entlohnt uns für die Strapazen der Fahrt.
Eine junge blonde Deutsche mit Hipster-Haarknoten und lässigem Outfit fragt, welchen Capucchino wir denn wollen. Mit Zimt oder Vanille, mit Sojamilch vielleicht?
Größer könnte der Unterschied nicht sein. Das Touristen-Indien hat begonnen.

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Magic Madurai

Höflicherweise greifen die Menschen in Madurai nur nach dem obersten roten Ball.
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Je länger Petra hier ist, umso öder findet sie ihre eigenen Klamotten.
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Diese Frau lächelt aus Dummheit. Sie ahnt nicht, dass Briefkästen in Indien nur der Dekoration dienen. Alle anderen wissen: Indische Post kommt nur an, wenn der Postmitarbeiter sie vor den eigenen Augen abgestempelt und in den richtigen Sack getan hat.
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Petra weiß schon beim Aufstehen, was sie hier bestellt. Das Sri Sabareesh Tagesmenü.
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Eines von vielen Thalis auf Bananenblättern im Sri Sabareesh. Das ist ohne Witz das beste Essen der Welt.
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Wir überlegen zu Hause ähnliche Blumenornamente zur Mittagszeit aufzulegen.
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Petra ist ein geselliger Mensch und findet schnell neue Freunde. Heute: im Erlebnispark neben dem Ghandi-Museum.
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Ghandi war ein super Typ, hatte aber leider eine Sauklaue.
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Kölner wissen: Elf Gesetze, das ist eine gute Zahl.
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Ghandi kann man in dieser Stadt auch rauf und runter lassen.
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Anne erlebt ein neues erstes Mal. Diesmal mit Jack’s Frucht.
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Für Petra ist der Sri-Meenakshi-Tempel der schönste, den sie je gesehen hat. Anne findet ihn schon deswegen super, weil er so vielen Tauben ein Zuhause bietet.
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Anne hat wegen Christopher nicht so viel vom Tempel mitbekommen. Denkt Petra.
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Gläubige finden hier die Erklärung für Multitasking. Für Ungläubige wirft dieser Tempelausschnitt anatomische Fragen auf.
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Petra grinst nur, weil sie davon ablenken will, dass sie keine Ahnung hat, wat der Driss mit dem Pöttchen im Pöttchen soll.
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Büdchen auf Indisch.
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Honni und Breschnew im Karnevalskostüm?
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Verliebt in Madurai

„Du wirst dich in Madurai verlieben“, ruft Petra, die mit ihrem schweren Rucksack hinter mir her durch das Gedränge auf dem Busbahnhof von Trichy hastet.
Woher weiß sie das? Hat Indiens Spiritualität so stark auf sie gewirkt, dass Petra jetzt schon in die Zukunft gucken kann? Und selbst, wenn: Ich bin doch gar nicht auf der Suche nach einem Mann!
Um diesem komplexen Gedankengang Ausdruck zu verleihen, reicht meine Kraft in der Hitze nicht. „Hä?“, rufe ich zu ihr zurück.
„Madurai soll die Seele von Tamil Nadu sein“, schreit Petra. „Der Reiseführer sagt, dass wir an diese Stadt unser Herz verlieren werden.“
Ach so. Dann bin ich ja beruhigt.

Wir quetschen uns vorbei an einem Stand, an dem fettige Samosa-Gemüseteigtaschen und duftende scharfe Pakoras feilgeboten werden. Obwohl das Duschwasser aus dem Krishna Inn noch nicht lange auf meiner Haut getrocknet ist, merke ich, wie mir ein Rinnsal Schweiß über den Rücken läuft.
„Maderimaderimaderi!“, ruft ein Mann in khakifarbener Uniform wie ein Maschinengewehr. „Maderimaderimaderi!“

Petra bleibt bei ihm stehen. „Excuse me, Mister. Is this the Bus to Madurai?“
Er bewegt den Kopf ein paar Mal hin und her. Noch vor Wochen hätten wir angenommen, dass er die Frage verneint. Jetzt wissen wir: Jawoll, das ist unser Bus.
Wir erklimmen die steilen Stufen ins Businnere, streifen die Rucksäcke ab und lassen uns auf den Sitz fallen.

Madurai, so erklärt mir Petra, soll die geheime Hauptstadt von Tamil Nadu sein.
„Als Kölner sind wir dann ja hier genau richtig“, meine ich. „Immerhin denken wir ja auch, dass wir in der heimlichen Hauptstadt leben.“
„Ich bin doch keine Kölnerin.“ Petra schaut mich empört an. „Ich bin Norddeutsche und lebe nur in Köln!“
Stimmt natürlich, schließlich ist sie in Jarmen in Meckpomm geboren.
Aber haben die Jahre in der Domstadt nicht doch ein bisschen abgefärbt?

Auf der anderen Seite des Ganges sitzt ein Pärchen. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, hat feine Gesichtszüge, ihre glänzenden schwarzen Haare schauen unter dem Schal des Saris hervor. Sie dreht sich zu uns herum, lächelt und nickt zum Gruß. Dann reicht sie uns eine Tüte mit viereckigen Süßigkeiten aus Erdnüssen und Karamell, die auch an den Ständen im Bahnhof verkauft werden, und köstlich auf der Zunge schmelzen.

„Maderimaderimaderi!“
Außer dem Schlachtruf des Busfahrers dringen Stimmengewirr, Hupen und anfahrende Wagen zu uns herein. Durch das trübe Frontfenster, auf dem außen POINT TO POINT steht und innen ein Sticker mit den rundlichen Zügen von Shiva klebt, sehen wir einige Männer rennen, die kurz darauf das Innere unseres Gefährts erklimmen.

Der Mann in der Uniform klettert nun ins Fahrerhäuschen und lässt den Motor aufheulen. Es riecht intensiv nach Benzin. Er drückt ein paar Mal auf die Hupe – ein schier unerträglich lauter Sirenenton. Es ist so heiß, dass der bunte Hippierock, den ich mir gekauft habe, an meinen Beinen klebt und wir beide auf unserer Plastiksitzbank vor uns hin schwitzen, selbst an den Unterarmen.
Der Fahrer manövriert mit so viel Schwung rückwärts aus der Busparklücke, dass wir uns an der Metallstange des Vordersitzes fast die Zähne ausschlagen.
Petra und ich sehen uns an.
„Ich liebe Busfahren in Indien!“, rufen wir gleichzeitig.

Das Pärchen lehnt sich zurück. Der Mann legt den Arm um seine Liebste, seine Hand liegt lässig auf der Lehne.
Wie schön! Der Busfahrer kurvt um die Ecken, als wäre dies sein allerletzter Trip – und hier im Bus wird nicht nur Petra und mir warm vor Glück. Mit dem Fahrtwind kühlen wir etwas ab, das Gefühl bleibt.

Nach einer vierstündigen Fahrt mit Pinkelpause und Stippvisiten in allen kleinen Orten auf dem Weg, erspähe ich schließlich auf den staubigen Werbetafeln am Straßenrand das Wort Madurai. Wenig später schlingern wir durch eine Straße, die ihren Haupterwerb aus dem Verkauf von Zwiebeln zu ziehen scheint.
„Falls du mal weinen möchtest, solltest du vielleicht hierher kommen“, meint Petra trocken.
„Weinen? Soll ich mich etwa unglücklich in diese Stadt verlieben?“
Sie lacht und schüttelt den Kopf. „Jedenfalls geht Liebe durch den Magen. Hunger?“
Eine blendende Idee. Indisches Essen liebe ich nämlich sehr. So sehr, dass ich froh bin über die Hose mit Gummibund, die mir ein Schneider in Mamallapuram angefertigt hat.

Nachdem wir unser Gepäck in der Unterkunft deponiert haben, beginnen wir mit der Futtersuche. Der Reiseführer schlägt ein Restaurant in der Nähe vor. Mit dem Buch in der Hand fahnden wir danach.
„Where you headin?“ Ein großer, kräftiger Mann mit heller Haut und Basecap hält uns an. Ami? Neuseeländer? Australier?
Kanadier – und klassischerweise auch noch Holzfäller.

Wir kommen ins Gespräch, und da Christopher gerade ebenfalls der Hunger plagt, sitzen wir bald darauf in seinem Lieblingsgasthaus, dem Sri Sabareesh in der Nähe des Bahnhofs. Es quillt schier über vor Menschen, denen die Küchenjungs ein Bananenblatt vorlegen, auf das sie aus verschiedenen Töpfen Reis, Pappadams und bunte, wohlriechende Soßen und eine Art würzigen Kartoffelsalat klatschen. Ein typisches indisches Mittagessen, dieses Thali, das immer wieder nachgefüllt wird, solange man hungrig ist.
„Mmmmmh.“ Petra steckt sich mit den Fingern noch etwas Reis mit Sambar in den Mund, dann noch ein wenig würzige Kartoffelmatsche hinterher.
Ich bin schon satt, knabbere aber trotzdem noch an einer in Salzlake getrockneten Chilischote, gar nicht scharf, eher aromatisch.

Christopher war als Kind mit seiner Mutter in Oshos Ashram.
„Ich verbringe hier den Winter“, erklärt er. „Ist günstig, und was soll ich zu Hause sitzen, wenn ich da ohnehin keine Arbeit habe?“
Ihn interessieren Religion, Sprache und Geschichte und so ist er auf der Suche nach neuer Lektüre – so sehr, dass er jedes Jahr ein paar Kilo Bücher nach Hause schickt. Er hat vor, zur Buchmesse nach Kalkutta zu fahren.
„Da habt ihr ja was gemeinsam“, ruft Petra entzückt. „Anne ist Autorin und sie fährt jedes Jahr auf die Buchmesse in Frankfurt.“
Ihre Augen glänzen, während ihr Blick zwischen uns hin und herwandert.
„Die Preise der Post sind allerdings gestiegen, dieses Jahr werden es wohl weniger“, meint er und wischt sich mit der Hand über den Mund. „Vielleicht nur zwanzig Kilo.“
Der Typ ist nett. Aber wann will er das alles nur lesen?
„Es gibt eben so viele interessante Bücher“, sagt er und erzählt von einem, das belegen soll, dass alle Religionsführer eigentlich Yogis waren.
Ich runzele die Stirn. Hätte ich das nur gewusst, als ich mich mit dem Thema Religion beschäftigte.

„Habt ihr Lust, in den Tempel zu gehen?“, fragt Christopher.
„Au ja“, ruft Petra. „Anne findet es bestimmt toll, wenn du uns begleitest!“
Nun, warum nicht.
Auf dem Weg zum Tempel geht sie in einigem Abstand hinter uns her. Christopher und ich unterhalten uns zwar angeregt, aber ich werfe immer wieder einen Blick zurück, um zu sehen, ob sie nicht verloren gegangen ist.

Der Sri-Meenakshi-Tempel ist einer der schönsten, die wir bisher gesehen haben, das Essen war eines der leckersten, die wir je gegessen haben, und Madurai hat ein angenehmes Tempo, eine sehr relaxte Atmosphäre.
Trotzdem scheint irgendetwas mit Petra nicht in Ordnung zu sein. Sie ist so still.

„Alles okay?“, frage ich sie, als wir im Tempel die Deckenverzierungen bewundern.
„Wenn ihr gerne mehr Zeit zusammen verbringen möchtet, dann unternehme ich einfach was alleine.“ Petra sieht mich erwartungsvoll an.
Warum schlägt sie das vor – ich bin doch mit ihr hier? „Aber der hat doch bestimmt keine Zeit. All die Bücher, die er noch lesen muss.“
„Ich glaube, dem bist du nicht egal“, sagt sie.
Ich zucke mit den Schultern.

Erst, als wir wieder auf der Straße sind, fällt bei mir der Groschen. „Ach, du meinst, Christopher könnte der Grund sein, warum ich mich in Madurai verliebe?“
„Na klar, hübsch ist er ja. Und Holzarbeiter. Der kann sogar eine große Frau wie dich hochheben.“
Ich muss lachen und schüttele den Kopf.
Christopher ist nett. Ob er ein Mann für mich wäre, weiß ich nicht.
Was ich allerdings weiß: Petras Jahre in Köln haben tatsächlich auf sie abgefärbt. Oder zumindest der Karneval, in dem es hauptsächlich um das Eine geht.
Ich beginne eine bekannte Melodie zu summen.
„Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust …“
Nun muss auch Petra schmunzeln.

Ich lasse den Blick schweifen. Das bunte Treiben um mich her gefällt mir. Eine ayurvedische Apotheke, die überquillt vor Töpfchen, Tübchen und Tiegelchen. Ein Kunstgeschäft, indem dunkle und bemalte Holzarbeiten angeboten werden. Eine Gruppe von Frauen mit bunten Saris und einige Männer, die vor einem Haus Chai aus kleinen Gläsern trinken.
Ja, ich bin bereit, mich zu verlieben.
Vielleicht erst mal in diese Stadt.

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Trichy? Tipptopp!

Eine Elvis-Inkarnation in Indien? Für Anne Grund genug, wieder an das Gute im Manne zu glauben. Und das auf der Fahrt von Chidambaram nach Tiruchirappalli, kurz Trichy.
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Ob Trichy viele Menschen zum Weinen bringt? Der Weg in die Innenstadt führt jedenfalls über die Zwiebelstraße.
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Da sage noch mal einer, kariert und gestreift ginge nicht zusammen.
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Erst nach dem Foto erfuhr Anne, dass es sich bei dem Segnungsmal auf ihrer Stirn um abgeflammten Kuhfladen handelte. Petra war froh, dass sie es abgelehnt hatte, da sie sich selbst für Gott hält.
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Der Rock Fort Temple ist nach einem berühmten Käse benannt. Diesen gibt es in ganz Indien aus religiösen Gründen nicht zu kaufen. Glaubt ihr’s?
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Anne ist begeistert von den lebensnahen Taubenskulpturen auf dem Tempeldach.
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So sehen Tempeltoiletten aus.
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Poori Masala: Annes Brot geht fein aufs … äh, ins Töpfchen.
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Wir fragen uns, ob man sauberer aus dem Fluss kommt, als man hineingestiegen ist. Scherz beiseite: Dies ist eine Totenzeremonie.
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Ziegen sind willige Anhänger des Hinduismus. Jedenfalls, solange es Bananenblätter gibt.
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Anne gefällt der Tempel. Petra das Gerüst.
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Noch grinst Petra. Dann bekommt sie vom Tempelelefanten eine gewischt.
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Szenen einer Ehe: Unser Fremdenführer Tamila und Petra stellen pantomimisch dar, wie es drei Monate nach der Hochzeit zwischen Mann und Frau aussieht. Nicht mehr Hand in Hand, wie beim Honeymoon, sondern nebeneinander her, wie es sich gehört.
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Next point: Madurai!
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Ciao Chidambaram

Natur wird überbewertet. Schöner ist der Blick aus dem Hotelfenster auf Tanke, Tempel, Busbahnhof
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Ein idyllischer Sonntagmorgen in Chidambaram: Aufwachen zu den sanften Klängen von Hupen und Motoren
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Mülleimer sind äußerst selten. Aber wenn man einen findet, ist er einfach zum Kuscheln
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Kurz waren wir in Versuchung, bei der Polizei nach einer Unterkunft zu fragen. Immerhin die beste Adresse der Stadt
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Bei uns ist das Ritz das beste Haus am Platz. Hier ist das Ritz ein Witz
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Der Do-it-yourself-Kit für ein Kolam in zwei einfachen Schritten
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Der berühmteste Shiva-Tempel ist genau wie der Kölner Dom: immer bauen se dran
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Geben Kühe, die Plastik fressen, gleich Milch im Tetrapak?
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I can get no disinfection

Chidambaram. Lautmalerisch steht der Name dieser Stadt bestimmt für „Tschingderassabum“.
Die Heimat des angeblich heiligsten Shiva-Tempels zeichnet sich nämlich durch ihren enormen Klangteppich aus. Wenn man Glück hat, mischen sich ins Motorenknattern noch schepperige Klänge aus einem Lautsprecher. Und das Wort Hupkonzert bekommt hier eine ganz neue Bedeutung. Wer direkt an der Straße beim Tempeleingang wohnt, hat die ganze Nacht Spaß. Und auch Gäste, die in den Seitengassen residieren, kommen voll auf ihre Kosten, wie wir schnell merken.

Bisher hatten wir mit dem erstbesten Zimmer stets Glück. Hoffentlich ist das hier auch so. Von der langen Busfahrt aus Pondicherry sind wir wirklich geschlaucht.

Das „Saradharam“ ist laut Reiseführer die beste Adresse.
„Aber das liegt neben dem Busbahnhof“, sage ich. „Ist doch bestimmt viel zu laut.“
Petra zuckt mit den Schultern. „Wie du magst. Wir können auch erst was anderes anschauen.“

Die zweite Adresse, das Hotel Akshaya, liegt in direkter Nähe zum Tempel. Wie praktisch!
Von außen schaut es ganz manierlich aus. Der Eingang liegt in einer lauschigen Tiefgarageneinfahrt. In der Rezeption erwartet uns ein gelangweilter Portier. Er drückt dem Pagen einen etwas ranzig wirkenden Schlüssel in die Hand, worauf der uns in den zweiten Stock führt. Das Zimmer ist von überschaubarer Größe und hat ein Bad, in dem sich selbst Oscar aus der Mülltonne nicht lange aufhielte. Die Nachttischchen sind von einem Fettfilm überzogen, unsere Schuhe kleben am Boden. Och nö.

In der Mansoor Lodge auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckt Petra beim Betreten des Zimmers einige Kakerlaken von beeindruckender Vitalität. Es ist ist dunkel.

Das Hotel Grand Park hingegen ist beleuchtet wie ein Casino in Las Vegas, und auch hier ist der Artenvielfalt Tür und Tor geöffnet. Genauer gesagt: Fenster – denn der Insektenschutz vor selbigem hat ein Loch, durch das auch faustgroße Krabbler ohne Mühe Kontakt suchen können.

Wäre ein Aufenthalt im Ritz gleich um die Ecke überhaupt erschwinglich? Der Reiseführer lobt es als das beste Hotel am Platz. So nobel wollen wir eigentlich nicht wohnen, aber es ist spät und wir sind erschöpft. Das Zimmer ist selbst ohne Moskitonetz und mit der Funzel, unter der bereits einige Mücken kreisen, bezaubernd. Es hat nur einen kleinen Schönheitsfehler, nämlich keine Dusche. Wir lehnen ab.

„Haben wir zu hohe Ansprüche?“ Ich kann nicht verhindern, dass ich latent verzweifelt klinge.
Petra grinst. „Diese verweichlichten Touristen von heute halten wirklich nix mehr aus.“ Zumindest sie hat sich ihren Humor bewahrt.

Der Zimmerjunge des Ritz deutet auf die gegenüberliegende Straßenseite. Das RK Residency – ein heißer Insidertipp!

Mit Sack und Pack beladen kraxeln wir die Treppen hinauf. Das Zimmer ist, abgesehen von den schmuddeligen Laken, von herausragender Sauberkeit.
Man sagt ja, alles sei relativ.
„Wat wells de maache?“, fragt Petra und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Ich kann nicht mehr.“ Sie lässt sich aufs Bett plumpsen.
Ich schnalle mir den schweren Rucksack ab.
Wir bleiben. So erledigt, wie wir sind, bekommen wir von der Unterkunft sowieso nur sehr wenig mit.

Bei einem kleinen Stadtrundgang bekommen wir Appetit. Der Reiseführer schlägt das Anupallavi vor, ein Restaurant, das zum Hotel Saradharam gehört.
„Kommt mir irgendwie bekannt vor“, sage ich.
„Das ist das neben dem Busbahnhof“, meint Petra. „Da war’s uns zu laut.“
An die Klangkulisse haben wir uns inzwischen gewöhnt, da kann auch der Busbahnhof nicht mehr schrecken. Und beim Essen stört das Gehupe ja auch nicht.

Das Hotel liegt etwas zurückgesetzt hinter einer Tanke, aber der Eingang sieht respektabel aus. Nebenan befindet sich das Restaurant, das ein ausgesprochen scharfes, aber umso schmackhafteres Gemüsecurry im Angebot hat. Beschwipst von den Gewürzen, beschließen wir uns nur so zum Spaß mal ein Zimmer anzusehen. Der Portier ist freundlich. Es ist sauber. Das Bettzeug hat nur wenige Löcher. Es riecht allenfalls dezent nach Abfluss im Bad. Hat aber eine Dusche. Die Insekten sind, wenn welche da sind, keine Rampensäue. Und es gibt W-LAN! Verglichen mit allem, was wir heute gesehen haben, ein Palast.

Kurzerhand holen wir unser Gepäck aus dem RK Residency und checken im Saradharam ein.
„In Chidambaram gilt jedenfalls: Et hät noch immer jot jejange!“, denke ich noch, als wir im Bett liegen. Und dann fallen mir auch schon die Augen zu.

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